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Christine Gaigg / 2nd nature: „Affair“

Frank, Christine, Robert: Alle haben Affären. © esel

Die Choreografin Christine Gaigg verlässt sich immer weniger auf den Ausdruck des Körpers, auf Bewegung und Musik, die durch Emotionen zur Erkenntnis führen. Auch der letzte Teil ihrer Trilogie über Sex und Sexualität im Laufe der vergangenen 40 Jahre wird vom Wort beherrscht, kommt aus dem Kopf und wendet sich an den Kopf. Nach „Maybe the way you made love twenty years ist the answer?“ (2014 + 2018) und „Meet“ (2018) beendet „Affair“ das Geplauder. Premiere war am 7. November im Tanzquartier.

Choreografin Christine Gaigg posiert für den Fotografen. Achten Sie auf die Füße. © eselIntellekt versus Emotion. Man darf und kann ja über alles reden, auch über kalten Sex, wechselnde Beziehungen und Bindungsängste, doch je mehr darüber geredet wird, desto abstrakter wird das Thema, desto schneller entschwindet es in ungreifbare Ferne. „Wer viel redet, glaubt am Ende, was er sagt“, meint der Schriftsteller Honoré de Balzac. Möglich, dass die Aufführung (alle drei Aufführungen) als Unterrichtsstunde über die „Chemie des Begehrens“ (Programmzettel) gedacht sind, das darf aber nicht laut gesagt werden. Sonst kommt niemand! Ein Thema, bei dem es um das physische und emotionale Erleben geht, das wiederum von den Hormonen gesteuert wird, die den Willen hinterlistig austricksen, ist für theoretisches Palaver nicht geeignet.Das Vorbild, ein übermaltes Foto aus der Werkserie "Giant Women" von Anita Steckel. Gefunden auf  sottoosservazione.wordpress.com.

Die nicht für lange Sitzungen vorgesehenen Bänke der Halle G sind im Dreieck angeordnet, die vier Erzähler*innen sind zugleich Teil des Publikums. Sie zitieren Texte von Christine Gaigg, und aus der Literatur. Das Anfangsbild, noch im Foyer gezeigt, ist stumm, stammt aus dem Jahr 1973, und ist das nachgestellte Werk "Giant Women (Subway)“ der feministischen amerikanischen Künstlerin Anita Steckel (1930–2012), die sich gegen Scheinmoral und Prüderie mit dem schönen Satz „If the erect penis is not wholesome enough to go into museums, it should not be considered wholesome enough to go into women,” zur Wehr gesetzt hat, der, nebenbei gesagt, sittenstrenge Browser und Übersetzungstools auch noch 2019 sofort rote Buchstaben ausschwitzen lässt,: „Can not! Gefährlich! Irrtum!“ und ähnliches aussagend. Reenactment, 1973: Anita Steckel. Robert Steijn, Christine Gaigg, Frank Willens. © Tanzquartier Natürlich werfen die auf den Einlass Wartenden nur einen kurzen Blick auf das lebende Bild, nur wenige verschwenden einen Gedanken daran. 

Mit dem Titel „Objet trouvé“ wandern die Gespräche, die keine Dialoge sind, sondern einfach von den vier Mitwirkenden (Christine Gaigg, Juliane Werner, Robert Steijn und der Tänzer Frank Willens) hingeworfenen Sätze, ans Ende des 20. Jahrhunderts. Unterschied erkenne ich keinen, Sex bleibt Sex, das Darüberreden wird halt etwas lauter. Einigermaßen amüsant ist es, dass die Männer die Gedanken von Frauen aussprechen und umgekehrt. One-night stands, wechselnde Begegnung, Sucht und Begierde sind das Thema, auch vom letzten Akt, für den Gaigg in der Roman-Literatur recherchiert hat. Und immer wieder taucht das schlechte Gewissen auf. Viel Neues, Bewegendes gibt das Thema „Affären“ ja nicht her, über Sex zu reden kann aufregend sein, die Thematik zu zerreden wird langweilig. Zumal es Tänzer*innen / Performer*innen nicht gegeben ist, lange Texte zu sprechen. Dazwischen wird ein wenig gegrapscht und geschmust, untereinander und mit Fremden. Frank Willens mit gelangweiltem Damenflor. Probenfoto, © esel

„Muss man gut vögeln können, wenn man gut tanzen kann?“, wird als rhetorische Frage in den Raum geworfen. Auf jeden Fall sollte man tanzen, wenn man es gut kann. Frank Willens bemüht sich zwar redlich um die Textflut und spricht sie sogar deutsch, obwohl seine Muttersprache Amerikanisch ist (Übersetzungen des Textes erscheinen gut lesbar auf dem Bildschirm), doch sehe ich ihn nicht tanzen, nur katzenhaft (katerhaft?) durch die Reihen schleichen,  über dias Geländer klettern und sich als Verführer zu den jungen Frauen setzen.

Unpassender Hilferuf: Ich wollte Frank Willens in Bewegung sehen, obowhl er auch angenehm anzuhören ist. Dass er als Tänzer auftreten und zugleich unter vollem Körpereinsatz kluge lange Texte sprechen kann, hat er auch in Wien in der Zusammenarbeit mit Peter Stamer gezeigt. Die Wiener Tanzszene hält Türen und Arme offen. Frank Willens ist immer willkommen (auch als Choreograf 😁).

Robert Steijn mit Publikum. © esel

Wenn aber die einzige Bewegung an einem zerdehnten Abend darin besteht, dass das Quartett auf der Bühne in den Sprechpausen umherwandert und sich einen neuen Platz zwischen den Zuschauer*innen sucht, dann fände ich es amüsanter und auch bequemer, einen Aufsatz zum Thema „Schneller Sex mit Fremden“ zu lesen. Gut, dann wird mich niemand innig umarmen und mir in aller Theateröffentlichkeit in den Nacken blasen, doch das war ohnehin nicht ernst gemeint, ein Spiel im Spiel mit Phrasen und Berührungen.

Mitnehmen kann ich dennoch etwas: „horny“, heißt nicht gehörnt, sondern ist das englische Wort für „geil“. Auch das, Christine Gaigg hat wirklich geile schwarze Sandaletten auf hohen Stöckeln angehabt (1973, wenn die Paraphrasen beginnen, waren die Amerikanismen noch nicht über den Ozean gedrungen, High Heels waren noch unbekannt).

Christine Gaigg / 2nd nature: „Affair“, Choreografie, Performance: Christine Gaigg, Robert Steijn, Juliane Werner, Frank Willens. Dramaturgische Begleitung: Wolfgang Reiter; Raum, Lichtdesign: Philipp Harnoncourt; Kostüme: Dorothea Nicolai. Komposition, Sounddesign: Peter Plessas. Englische Übersetzung: David Tushingham. Produktionsleitung Kira Koplin / Groundworkers.
Aufführungen: 7., 8.11. 2019, Tanzquartier.
„Words don’t come easy“: Paneldiskussion zum Themenschwerpunkt word am 16. November, 16–19 Uhr / TQW Studios, Eintritt frei.