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Damien Manivel: „Isadoras Kinder“. Über Tanz

Manon Carpentier mit der Choreografin Marika Rizzi. © Filmgarten

Regisseur Damien Manivel, selbst ausgebildeter Tänzer, widmet sich mit „Isadoras Kinder / Les Enfants d’Isadora) auch filmisch dem Tanz. Doch er bietet nicht abgefilmte Sprünge und Pas de deux oder gar eine Geschichte als Ballett, sondern er sucht das Geheimnis des Tanzes. Der Titel bezieht sich auf die Tänzerin Isadora Duncan und ihr Solo „Mutter“, das sie nach dem Tod ihrer beiden Kinder kreiert hat. Doch sind mit „Isadoras Kindern“ wohl auch ihre Schülerinnen und deren Nachfolgerinnen gemeint, die das Solo wiederbeleben wollen, von dem es außer der von nur wenigen entzifferbaren Labannotation nichts erhalten ist.

Isadora Duncan und ihre Kinder, fotografiert von Otto Wegener.  © lizenzfrei.Obwohl der genau gearbeitete Film beim Filmfestival in Locarno den Leoparden für die beste Regie erhalten hat, ist er einem Massenpublikum nicht wirklich zugänglich. Manivel erzählt keine Geschichte, auch nicht die Biografie der Tanzlegende Isadora Duncan (1877–1927), er lässt drei Tänzerinnen und eine Choreografin das Solo „La Mère“ („Die Mutter“) neu interpretieren. Duncan hat dieses Werk, das nur durch mündliche Berichte und die schon genannte Labannotation überliefert ist, 1921 geschaffen, um den Tod ihrer beiden Kinder zu verarbeiten. Deirdre und Patrick, beide noch im Kindergarten, sind im April 1913 samt dem Kindermädchen in der Seine ertrunken, nachdem das Familienauto durch die Unachtsamkeit des Chauffeurs in den Fluss gestürzt war. Agathe Bonitzer versucht zaghaft die ersten Gesten. © Filmgarten

Anmutig spielen zwei Mädchen auf der Straße, während die Schauspielerin Agathe Bonitzer ins Pariser Tanzzentrum von Pantin geht, die Labanschrift von Duncans Solo dechiffriert und vorsichtig und zart die ersten Bewegungen skizziert. Manivel geht es nicht um eine Reproduktion der Choreografie, sondern um die Gefühle, die Duncan damit ausgedrückt hat. Wie interpretieren die Körper heute Verlust und Trauer, Liebe und Trost und die Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern? Im lichtdurchfluteten bretonischen Kulturzentrum Carré Magique erarbeitet die Choreografin Marika Rizzi mit ihrer Schülerin Manon Carpentier, die mit einem Down-Syndrom geboren worden ist, den Ausdruck und die Gesten für eine Aufführung. Manon kennt die Geschichte von Isadora Duncan, und ihre Jugend hindert sie nicht, sich der Trauer und dem Schmerz hinzugeben und durch ihre Gesten sprechen zu lassen. Manon Carpentier  im Tanzzentrum mit Marika Rizzi. © FilmgsrtenAn der öffentlichen Performance nimmt die amerikanische Tänzerin und Choreografin Elsa Wolliaston (* 1945 in Jamaika) teil, sie ist von Manons Darstellung tief beeindruckt. Aufmerksam folgt ihr die Kamera, wie sie auf schmerzenden Füßen durch die beleuchtete Stadt den weiten Weg nach Hause hinter sich bringt.
Gesprochen wird in diesem Film wenig, lediglich wenn Rizzi der jungen Manon Carpentier erklärt, was das Wesen des Tanzes ist, und sie ermutigt, ihre eigenen Gefühle zu spüren und in Bewegungen zu übersetzen, gibt es einen knappen Dialog. Manon versteht und ist, wie später die Zuschauer*innen, von Glück erfüllt. Mit Rizzi läuft und springt sie unter dem Himmel der Bretagne durch die Brandung.Die Tänzerin Elsa Wolliaston erinnert sich an die Vorführung und ihre eigenen Auftritte. © Filmgarten
Manivels Film ist weniger ein Tanzfilm als ein Film über den Tanz, über das, was er auszudrücken imstand ist, über seine Flüchtigkeit und sein ewiges Leben, in dem er von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Leicht zugänglich ist der nur 80 Minuten lange Film (Manivel hat seine Reputation als Kurzfilmer gewonnen) nicht, zumal die Inszenierung mit Elsa Wolliaston etwas lang gerät. Da braucht es etwas Geduld, vor allem, um den Zauber lebendig zu erhalten, den dieser Film ausübt. Auch weniger tanzaffine Besucher*innen wissen nach Manivels Arbeit, dass es für das Tanz-Publikum nicht vor allem darum geht, etwas zu verstehen, sondern um sich zu öffnen und zu fühlen. Wie es Tänzerinnen und Tänzer auch tun.

Regisseur Damien Manivel. Mit Manivels Film eröffnet das Studio Molière / Le Studio die nach Corona verbleibende Zeit der ausklingenden Saison. Davor ist die zehnminütige Dokumentation „La reprise du travail aux usines Wonder / Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik Wonder“ angesetzt, wobei es nicht um das Ende der strengen Corona-Maßnahmen geht, sondern um das Ende des Generalstreiks in Frankreich 1968. Die Frage ist heute wie damals: „Wird danach wirklich alles anders?“
Nach Manivels Film ist noch Zeit für Bertrand Bonellos Film „Zombi Child“, mehr Dokumentation und Reflektion als Zombiegrusel.

Sommerprogramm im Studio Molière / Le Studio: Wiedereröffnung am 1. Juli mit dem Film „Isadoras Kinder“ von Damien Manivel (Regie, Drehbuch). Darstellerinnen: Agathe Bonitzer, Manon Carpentier, Marika Rizzi, Elsa Wolliaston. Kamera: Noé Bach. Vorfilm: „La reprise du travail aux usines Wonder“, Kurzfilm. Beginn: 18.59 Uhr.
Bertrand Bonello (Regie, Drehbuch, Musik): „Zombi Child“,
Weitere Termine und Kartenreservierung auf der Programmseite des Studio Molière, 1090 Liechtensteinstraße 37.
Am 4. Juli wird um 17 Uhr die Reihe „*Rendez-vous Film und Bühne“ mit „La Boum (Die Fete)“ auf der Leinwand und Hanna Binder auf der Bühne eröffnet. Als besondere Vorstellung sind diese Rendez-vous im Programm mit einem Stern gekennzeichnet.