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Ho Tzu Nyen: „No Man II“, Videoinstallation

Ho Tzu Nyen: "No Man II". Niemand ist eine Insel.

Geheimnisvolle, fremdartige Wesen sehen uns an, und wir fühlen, dass wir sie kennen, zu uns gehören. Den geisterhaften Chor unterschiedlicher Androide hat der singapurische Künstler Ho Tzu Nyen digital geschaffen und zu einem bewegten Chor zusammengestellt und aufgezeichnet. Die Videoanimation ist das beständige Relikt eines Festivals, das nie stattgefunden hat, der Wiener Festwochen. Noch bis 30. September ist diese großartige Arbeit in der Kärntnertorpassage zu sehen. Eintritt frei. Es lohnt sich, zu bremsen, zu verweilen, und sich einfangen zu lassen.

Erinnerungen an alte Mythen, Kunstepochen und Märchen werden hervorgerufen.Die gesamte Videoschleife wird sich wohl niemand gönnen, immerhin dauert der Tanz der Figuren, die sich aus dem Dunkel nach vorn bewegen und unverhofft im Nebel verschwinden, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, mehr als sechs Stunden. Das steht man nicht durch. Die Passage hat keine Stockerl.
Schon 2015 hat Ho Tzu Nyen mit „No Man“ seine unheimlich vertrauten Figuren, Manche bleiben stehen, andere hasten vorbei, ohne zu schauen. Foto: © Franzi Kreiskeine Menschen und doch menschlich, auf die Videobühne gestellt. 50 sollten es sein, denn das Werk war ein Geschenk zum 50. Geburtstag seiner Heimat, der Republik Singapur, gedacht. „No Man“, ein gemessener Tanz der geisterhaften Wesen, Androide, Cyborgs, metallene Skelette, Zombies und Tiermenschen, die aus dem Nebel der Vergangenheit auftauchen und im Nebel der Zukunft verblassen, hat nur 60 Minuten gedauert. „No Man II“ ist sechsmal so lang, und die Figuren werden später über online-Datenbanken zum Kauf angeboten.

Zu dieser gemischten Versammlung der im Motion Capture Verfahren animierten Figuren hat sich Ho Tzu Nyen von einem englischen Dichter aus einer lang vergangenen Zeit inspirieren lassen. „Devotions Upon Emergent Occasions“ heißt das umfangreiche Prosawerk des englischen Dichters und Klerikers John Donne (1572–1631), aus dem die Zeilen der „Meditation XVII“ entnommen sind:

No man is an islandDer Melancholiker John Donne. Unbekannter Maler, etwa 1595. © National Portrait Gallery / Wikipedia, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend's or of thine own were. Any man's death diminishes me because I am involved in mankind; and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.
Niemand ist eine Insel, ganz allein; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.

Das geht schon unter die Haut. Keine Überraschung daher, dass Zitate daraus heute noch in der Populärkultur lebendig sind. Der englische Komponist und Sänger Vindicatrix (David Aird) hat diese Mahnung an die Menschheit vertont. Nackte, Tote, Gehäutete, anthropomorph sind sie alle. Es ist eine der Kompositionen, die der unheimliche Chor der digital erzeugten Wesen gemeinsam mit dem Bariton Vindicatrix singt. Donnes Text, damals dem britischen Inselvolk ans Herz gelegt, ist aktueller denn je und würde sich wunderbar als Europa-Hymne eignen. Der abgedroschene Schlusschor aus Beethovens 9. Symphonie – in diesem Jahr auch in feuchtfröhlicher Runde, im Altersheim und im Kindergarten gebrüllt, gekrächzt oder geschmettert – ist zum Gassenhauer verkommen, dessen Text jegliche Bedeutung verloren hat.

In der Kärntnertorpassage. © Franzi Kreis Weil eben niemand ganz für sich selbst existieren kann, bindet der Künstler auch das Publikum in seine aus vielen Elementen zusammengesetzte polyphone Gemeinschaft ein. Je nach Lichteinfall wirkt die Videowand als Spiegel, und plötzlich steht man als Schatten mitten unter den von einer KI geschaffenen Brüdern und Schwestern. Und endlich kann ich das so oft missbrauchte Modewort „immersiv“ richtig anwenden. Denn diese hybriden Wesen sind verführerisch wie die Sirenen und ziehen das Gegenüber mitten hinein in ihre Gemeinschaft. „Komm, komm zu uns“ scheinen sie zu singen, wenn sie mit großen Augen scheinbar ihre Tentakel nach den Betrachter*innen ausstrecken. Echt immersiv. Hinschauen lohnt sich.

Ho Tzu Nyen: „No Man II“. Regie, Compositing: Ho Tzu Nyen, Text Adaption von John Donne: Meditation XVII – Devotions Upon Emergent Occasions, mit Musik von Vindicatrix. Solist*innen: Vindicatrix, New Noveta (Ellen Freed, Keira Fox), Craig Boorman Chorus (Simon Cleary, Morag Keil, Georgie Nettell, Armin Suljic, Gili Tal Cory, und andere).
3D Animation: Mimic Production. Zusätzliches Compositing Kin Chui, Rendering: Vividthree Production. Sound Mix: Jeffrey Yue, Lee Yew Jin Co-Design Installation. Produktionsleitung: ARTFACTORY. Ein gut erhaltener Rest der geplanten Wiener Festwochen 2020.
Bilder: Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, der Edouard Malingue Gallery sowie der Galerie Michael Janssen.
Bis 30. September 2020, täglich 0–24 Uhr. Kärntnertorpassage / Ausgang Resselpark.