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Christoph Poschenrieder: „Wem gehörst denn du?“

Autor Chistoph Poschenrieder © buchreport.de

Eine intime Familiengeschichte, von gesellschaftlicher Bedeutung. Christoph Poschenrieders Geschichten haben fast immer einen wahren, recherchierten Kern oder der Autor lässt historische Persönlichkeiten als Nebenfiguren auftreten. Der jüngste Roman, Fräulein Hedwig, spielt auch in der Vergangenheit, jedoch nicht in der öffentlichen, sondern in der privaten, in der Vergangenheit seiner eigenen Familie. Je mehr ich in dieser Familiengeschte und im Leben von Fräulein Hedwig vorankomme, desto kälter wird mir.

In Metten an der Donau ist Hedwig 1884 geboren. © wikipediaHedwig Poschenrieder ist des Autors Großtante. „Fräulein“, weil sie unverheiratet geblieben ist, eine alte Jungfer war, wie man bis zur Mitte des 20. Jahrhundert unverheiratete Frauen, junge wie ältere, genannt hat. Doch Poschenrieder erzählt nicht nur von Hedwig, die 1944 in einem Krankenhaus verstorben ist, ermordet, wie ihr Großneffe nach mühsamer Recherche 75 Jahre später herausgefunden hat. Der Autor folgt den Spuren der bayerischen Familie Poschenrieder zurück bis ins 17. Jahrhundert:

„Wir sind seit je gewöhnliche Leute.  Der älteste bekannte Poschenrieder meiner Linie hieß Kaspar. Er verließ seinen Geburtsort bei Königsdorf in den bayerischen Voralpen um 1660 und zog mit seiner Frau Richtung Norden.“

Seine Großtante Hedwig hat er, 1964 nahe Boston gebürtig, doch in München aufgewachsen, nicht gekannt, doch ihre jüngere Schwester, Marie, auch ein Fräulein Poschenrieder, hat der kleine Christoph noch im Altersheim besucht. Mühle und Sägewerk Poschenrieder im Bruckdorf an der schwarzen Laber. © poschenrieder-muehle.de/Auch zwei Brüder gehören zu den Zu Familie von Frau Seraph, dem Gymnasialprpfesspr und seiner Ehefrau Margarate, Hermann und Franz, beide haben geheiratet und als Lehrer die Familie erhalten. Franz ist der Urgroßvater von Christoph. Marie wollte Schriftstellerin werden und hat sich auch vorgenommen, eine Familiengeschichte zu schreiben. Der frühe Tod des Vaters hat all ihre Ambitionen verhindert, Marie musste sich um die jüngeren Brüder, die Mütter und später auch um ihre Schwester Hedwig kümmern, eine geradezu wahnhaft fromme, introvertierte, unkonventionelle Frau, die ebenalls als Lehrerin gearbeitet hat. Solange es ihr möglich war. Aktuelles Logo der Poschsenrieder Mühle. © poschenrieder-muehle.de/Maries schriftliche Zeugnisse sind nahezu alle 1945 verloren gegangen, als das Haus, indem sie gelebt hat, zerstört worden ist. Marie ist dann ins Altersheim gezogen, ihre gesammelten und selbst geschriebenen Schätze waren verloren. Die Familienchronik – „Was einst war,/ für alle, die nach mir kommen / Von Marie Poschenrieder. Da tippte die Tante Marie auf dünnes, durchscheinendes Durchschlagpapier und steckte es in einen Umschlag, auf den sie mit wackliger Hand schrieb: Sehr wichtig für die ganze Familie!“ Wie gesagt, Marie konnte die Chronik nicht fertigstellen, diese Aufgabe hat ihr Großneffe Christoph übernommen, der sich zugleich auf die Suche von Großtante Hedwig macht. Die Abtei von Metten, wo der Vater Hedwigs Gymnasiallehrr in der angesclossenen Internatsschule war. © wikipedia
„Die Hedwig, die haben wohl die Nazis auf dem Gewissen“, wird eine Bemerkung ihres Bruders Franz, zugleich der Großvater des Autors, überliefert. Schrift für Schritt, manchmal stolpernd, dann wieder forsch marschierend, zeichnet Christoph Poschenrieder das Leben von Fräulein Hedwig nach. Angefangen mit den Kanonenschüssen der Internatsschüler  und deren „Vivatrufen“ – schließlich hatten sie Freistunde erhalten – anlässlich von Geburt und Taufe des ersten Kinders von Franz Seraph und Margarethe ( „halt ein Mädchen, man wird weiter hoffen“) in Metten an der Donau, bis zu ihrem letzten Atemzug in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar.
Zeitgenössische Ansichtskarte mit Luftaufnahme der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Quelle: Archiv des Bezirks Oberbayern, Sammlungen . © nsdoku.deChristoph Poschenrieder schreibt mit leichter Hand erzählt in leichtem, von seiner Großtante Hedwig sogar in leisem, eher intimemTon, Ich fühle mich sofort hineingezogen in diese Familie von Müllern und Gymnasialprofessoren und Frauen, die erst an der Seite eines Mannes wichtig waren, bis auf die beiden Großtanten, Hedwig und Marie (Betonung auf der ersten Silbe). Hedwig ist Lehrerin geworden, was ihr das Heiraten verbot, doch sie interessierte sich weder für Männer noch fürs Heiraten, dachte nur sich von Sünden reinzuwaschen, die sie gar nicht begangen hatte. Hedwig war eine schwierige Frau und so bin ich mit Marie vertrauter, zumal sie mich an meine Großmutter erinnnert. Die nämlich, obwohl sie, wie sie immer betonte, „nur die Bürgerschule besucht hat“, korrespondierte für ihr Leben gern, pflegte und bearbeitete täglich ihre Schreibmaschine mit den messinggerahmten Tasten, deren Buchstaben unter Plastikblättchen lagen. Die Christ-Großmutter hat auch mit der Welt außerhalb vom Neubau in Wien korrespondiert, um eine Familienchronik herzustellen. Sie war bis ins 16. Jahrhundert gekommen. Doch die abgehefteten Blätter sind verschwunden. Mahnmal auf dem Klinikgelände. Inschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie während des NS Regimes - „Uns allen zur Mahnung“Christoph Poschenrieder hat sich auf die Suche nach Hedwig gemacht, weil auch in der Familie selten von ihr gesprochen worden ist und um ihren Tod ein Schleier lag. „Die Hedwig, die haben wohl die Nazis auf dem Gewissen,“ soll der Großvater des Autors, also Hedwigs Bruder Franz, gesagt haben.
Sein Enkel hat nun genau herausgefunden, wie und wo Hedwig gelebt hat und auch wie und wo sie gestorben ist. Oder durch absichtliche Nachlässigkeit gestorben wurde, also ermordet worden ist. der sogenannte HUngerkosterlaß des Bayerischen Staatsministers des Inneren vom 30. November 1942. Auch Hedwig ist vermutlich verhungert. © wikipediaWenn die Fakten nicht ausreichen werden die Lücken vom Autor einfühlsam mit eigenen  Gedanken gefüllt. Doch liegt es Poschenrieder fern, nach Rache  zu schreien, doch er zitiert genau und erspart den Leserinnen auch nicht Begriffe aus der Nazi-Zeit, die Gänsehaut hervorrufen und er verschweigt auch nicht, dass sich Hedwigs Familie, Brüder und Schwägerinnen, nicht um sie gekümmert haben. Sie stehen alle miteinander in kontakt, doch niemand erkundigt sich nach Hedwig und er nennt Namen mancher Täter oder Wisssender, die geschwiegen haben. Akribisch vermerkter die letzten Wochen von Hedwig, von der Einweisung in die Universitätsnervenklinik in der Nussbaumstraße, bis zur Überweisung in die Schutzumscglag mit einem Gemälde von Andrii Kateryniuk: „Through The Shadows“, 2023. © Diogenes Verlag.Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, die auf der Website des NS-Dokumentationszentrums München / als „Ort der dezentralen NS-‚Euthanasie‘“bezeichnet wird.Er erzählt vom Leben einer Frau, der das Leben nicht leicht war und das nahezu unbemerkt verlöscht ist. Auch Nichtstun und Wegschauen, kann verbrecherisch sein. 21 Tage nach der Aufnahme in Eglfing-Haar war Hedwig tot, vier Tage danach wurde sie auf dem Anstaltsfriedhof in die Erde gelegt. Ob es eine Trauerfeier gegeben hat, weiß der Autor nicht.

Christoph Poschenrieder: Fräulein Hedwig, Diogenes 2025, 336 Seiten, € 25,70. E-Book € 21,99.