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Angie Kim: Happiness Falls – ein Glücksfall

Angie Kim, auch der zweite Roman ist ein Erfolg. © Nina Subin

Was ist Glück und wie erlangt man es? Das versucht Adam Parson, im Roman Happiness Falls von Angie Kim zu ergründen. Doch das Hauptinteresse der Autorin gilt jedoch Kindern mit besonderen Bedürfnissen und wie sich diese Diversität auf das familiäre System wirkt. Ihr spezielles Interesse hat Kim jedoch feinst in einen Spannungsroman verpackt. Vater Parson ist von einem Spaziergang mit seinem Sohn nicht zurückgekommen. Er bleibt verschwunden.

Der Potomac bei  Great Falls, Virginia, wo sich das Drama abgesielt haben könnte. © wikipediaAls „typisch“ oder „gewöhnlich“ will Mia, die Erzählerin, ihre Familie nicht bezeichnen. Die Mutter, koreanisch, ist berufstätig. Der Vater, weißer Amerikaner, ist Hausmann. Mia hat einen Zwillingsbruder, John, und einen jüngeren Bruder, Eugene. Die Kinder haben einen eigenen Nachnamen: „Parson für unseren Vater + Park für unsere Mutter = die Hybridbildung Parkson für uns Kinder.“ Hohwasser im Grat Falls Park, hier wurde Eugene von Besucherinnen gesehen. © wikipediaIm Mittelpunkt der Familie steht der 14-jährige Eugene. Bei ihm wurde Autismus diagnostiziert und „eine seltene Gen-Anomalie namens Angelman-Syndrom (AS), wobei sich diese Gen-Anomalie nur punktuell auswirkt, »mosaikartig« sagt man dazu. Das bedeutet, dass er nicht reden kann, motorische Probleme hat und – das fasziniert die Leute, die noch nie von AS gehört haben, am meisten – ein außer-gewöhnlich vergnügtes Gemüt besitzt, also ganz viel grinst und lacht.“
Die Chesapeake Bucht, die größte Flußmündung in den USA, mehr als zehn Flüsse, daruner der Potomac, münden hier in den Atlantik. Ein Teild avon liegt in Virginia, dem Schauplatz des Romans. Mia erzählt, erklärt, schweift ab, analysiert, unterhält. Sie ist klug, kritisch und frech, ihr Erzählstil ist von Ironie und auch Selbstdistanz durchzogen: „Ich bin grundsätzlich ein Anhänger der Theorie, dass man immer aussprechen sollte, was man denkt, so viel wie eben möglich ist.“ Ihr Gehirn funktioniert wie bei Teenagern mit ADHS, viel zu viele Gedanken zugleich schwirren in ihrem Kopf. Deshalb sie manche davon in Klammern und Fußnoten. Wenn man diese überliest, versäumt man nichts von der spannenden Suche nach Dem verschwundenen Vater und der Beantwortung der Frage, ob Eugene womöglich etwa damit zu tun hat, doch wenn man diese Abschweifungen und Vertiefungen liest, gewinnt man neue Erkenntnisse. Das Glück sgefühl ist inviduell und hängt vom Ausgangspunkt ab. Ein Kleeblatt kann da nichs ausrichten. © geod.eZum Beispiel die, dass das Glücksgefühl relativ ist. Nach drei Tagen Regen entfacht ein Sonnenstrahl ein wärmendes Glücksgefühl, was in der Wüste zur Verzweiflung führen könnte. Adam Parson hat neben der Hausarbeit und der Betreuung von Eugene an der Erforschung des Glücks gearbeitet und den Begriff „Glücksquotient“ geprägt: „Inwiefern entspricht das tatsächliche Erlebnis (Zähler) dem Empfinden (Nenner)?“
Jetzt bin ich etwas abgeschweift, pardon.
Auch wenn die Familie zögert, irgendwann müssen sie die Polizei verständigen und um Hilfe bei  der Suche nach dem Verschwundenen bitten. © neittenws.vt.eduDer Handlungskern ist das Verschwinden des Vaters. Adam Parson ist mit seinem Sohn Eugene routinemäßig spazieren gegangen, Eugene ist allein nach Hause gekommen, doch anfangs hat das niemand (aus den unterschiedlichsten Gründen) für bemerkenswert gehalten. Doch Eugene, Diagnose Autismus und Angelman Syndrom, kann nicht erzählen, was passiert ist. Er kann aus physischen Gründen nicht sprechen. Eugene lernt mit einer Aplphabet-Tafel und den Augen, später mit den Händen, zu sprechen. Lesen hat er sich selbst beigebracht. © amaterracrianza.comEine ziemlich ekelhafte Ermittlerin, Detective Janus, möchte beweisen, dass Eugene seinen Vater in den Fluss gestoßen hat. Die Familie, vor allem Mia, glauben nicht daran und setzen alles ein, damit Eugene seine Ruhe hat. Dabei wird klar, dass Menschen, die nicht reden können und / oder motorische Probleme haben, keineswegs auch kognitiv behindert oder intellektuell retardiert sind. Auch Eugene kann logisch denken, sich erinnern, auch lesen, nur mitteilen kann er sich nicht so, dass er verstanden wird. Er aber ist der Einzige, der erklären könnte, was passiert ist und warum er allein nach Hause gekommen ist. Allmählich jedoch erkennt Mia vor allen anderen mithilfe einer Therapeutin, welche Potenziale Eugene hat, man muss ihm nur Zeit und Unterstützung geben, sie zu entwickeln.
Vollmond über Great Falls und dem Potomac. © wikipediaAngie Kim, Mutter von drei Kindern und Anwältin, war bereits 50 Jahre alt, als sie 2019 ihren ersten Roman veröffentlicht hat. Ein Edgar für den besten Erstlingsroman einer amerikanischen Autorin (eines Autors) war ihr sicher. Auch in Miracle Creek befasst sich Kim mit Themen wie in Happiness Falls: Behinderte Kinder und ihre Mütter, die Lebensrealität asiatischer Migranten in den USA, Rassismus. Im Fokus steht Elizabeth, die angeklagt ist, durch Brandstiftung eine Therapieeinrichtung zerstört und dabei ihren eigenen Sohn umgebracht zu haben. Cover der englischen Ausgabe von Kims preisgekröntem Debütroman „Miracle Creek“. © Amazon.deIn direkter Rede kommen viele Personen zu Wort, sodass ich nur mit äußerster Konzentration folgen kann. Um die Frage, wer ist wer, zu beantworten, wäre eine Personenliste vonnöten. Genau diesen Wirrwarr an Stimmen und Aussagen, vermeidet Kim im zweiten Roman. Mia hört man gerne so, kann den Behauptungen und Einwänden, den Drehungen und Wendungen der Geschichte gut folgen und amüsiert sich, über Mias Nebenbemerkungen und Beobachtungen.
Angie Kim erzählt in einem Video über ihrren zweiten Roman. © hanserblau / VideoausschnittWas bleibt von diesem großartigen, vielfältig ansprechenden Roman ist die Erkenntnis, dass Stummheit nicht Dummheit bedeutet. In diese Falle tappt man immer wieder, die Autorin hat es selbst erlebt. Sie war elf Jahre alt, als sie mit den Eltern aus Südkorea nach in die USA kam. Weil sie kein Englisch konnte, war jegliche Kommunikation schwierig. War sie in Seoul eine selbstbewusste, intelligente Teenagerin gewesen, ist sie plötzlich in Baltimore eine „bah-bo“, ein Dummerchen, schüchtern und sogar beschämt.  Auch gegen das Vorurteil, dass Redegewandtheit mit Intelligenz gleichzusetzen, kämpft Kim in Happiness Falls.
Buchumschlag: „Happiness Falls“ , Angie Kims zweiter Roman, der das Debüt weit hinter sich lässt. © hanserblauWas mich tatsächlich nachhaltig beeindruckt hat, ist die Idee vom Glücksquotienten. Objektive Glücksgefühle sind mit den subjektiven selten identisch. Der einen Glück, kann der anderen Pech sein. Glück ist nichts Absolutes, das Glücksgefühl hängt vom Ausgangspunkt ab. Nicht Musil oder Proust und schon gar nicht die Bibel haben mein Denken verändert, sondern Angie Kim oder der verschwundene Adam Parson. Als Präambel zitiert Kim Antoine de Saint-Exupéry, natürlich aus dem Kleinen Prinzen, aber nicht das Übliche, sondern:

«Es macht die Wüste schön», sagt der kleine Prinz, «dass sie irgendwo einen Brunnen verbirgt.»


Angie Kim: Happiness Falls, aus dem Englischen von Wibke Kuhn, 533 Seiten, hanserblau, 2025. € 24,70. E-Book: € 17,99.
                  Miracle Creek, aus dem Englischen von Marieke Heimburger, 512 Seiten, hanserblau, 2020, 2. Auflage. € 22,70. E-Book: € 16,99.