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Bekannte Gestalten, Gemischte Beziehungen

Romanautor John Irving, 81. © Basso Cannarsa/Opale/Leemage/laif

Im vergangenen Jahr ist der amerikanische Schriftsteller John Irving 80 Jahre alt geworden, hat einen neuen Roman fertiggestellt, worüber er in ungezählten Interviews bereitwillig Auskunft erteilt. So erfahren seine Leserinnen, dass er vermutet, Der letzte Sessellift sei sein letzter Roman und, dass er für dessen Fertigstellung sechs Jahre benötigt hat.

Aspen downtown. Im berühmten Skiort Aspen ist Adam, der Erzähler, geboren.  © earjunkie.comSo lange werden Irving Verehrerinnen wohl nicht brauchen, um zum Ende zu kommen, falls sie nicht ohnehin davor aufgeben. 1088 Seiten sind zu bewältigen, wenn Adam Brewster seine Lebensgeschichte erzählt, von der Zeugung bis zum, nein, nein, nicht bis zum Ende. Adam ist noch nicht 80, und er versucht „nicht an das Verschwinden zu denken.“
Adam erzählt also, wie er die Welt sah und hat sicher sämtliche Romane seines Schöpfers gelesen, denn die Figuren, von denen er berichtet, sind Irving-Leserinnen durchaus vertraut, wie auch so manche Szene. Was nicht in einem der vorangegangenen 14 Romane Irvings zu lesen ist, stammt aus der Biografie des Autors. Adam wächst wie John in Exeter, New Hampshire auf, seine Mutter wollte ein Kind, aber keinen Mann, also verführt die 18-Jährige im Skiort Aspen, wo sie als Rennläuferin trainiert, den 14-jährigen Hotelpagen. Ihrem Vater in Exeter verschlägt es die Stimme, als seine Tochter Rachel, genannt little Ray, das unehelich geborene Kind ins Haus bringt. Auch auf dem  Bromley Mountain in Vermont unterrichtet little Ray, Adams Mutter,angehende Skifahrer. ©  skimap.orgEr weigert sich zu kommunizieren, erscheint aber nach seinem tragischen Tod ebenso wie der Hotelpage aus Aspen Adam als Gespenst.
Wie John will Adam Ringer und Schriftsteller werden, was, wie wir wissen, nur zur Hälfte gelingt. Wenn ich 1088 Seiten auf zwei Wörter reduzierte, dann sind es diese: Sport und Sex. Adams kleine Mutter arbeitet mangels Erfolg als Rennläuferin als Skilehrerin und lebt mit einer Pistenpflegerin zusammen. Als ihr aber Adam den „Schneeläufer“, einen Lehrer, der nicht Skifahren will, sondern lieber mit Schneeschuhen durch den Schnee geht, was Adam, der aus Protest absichtlich schlecht Ski fährt, besonders gut gefällt, als Ehemann zuführt, heiratet sie Elliot Barlow. Der ist noch winziger als die eins achtundfünfzig kleine Rachel und wird sich später zur Frau wandeln. Sie wird weiterhin Mr. Barlow genannt, allerdings mit dem weiblichen Personalpronomen. In Exeter ist nicht nur Autor John Irving, sondern auch Erzähler Adam Brewster aufgewachsen. © exeternh.gov/ Auch Adam heiratet, eine junge Frau, die ihm die Mutter zugeführt hat. Die weiterhin gerne mit Adam in einem Bett schläft. Ödipus grüßt von Ferne. Adam zeugt einen Sohn, verlässt seine Frau und heiratet die Geliebte seiner ermordeten Cousine Nora. Auch Em spricht nicht, stellt, was sie sagen will und fühlt, pantomimisch dar. Erst Adams Sohn löst die Sperre, im Alter spricht Em wieder. Sie zieht mit Adam nach Kanada, und er nimmt, wie der Autor selbst, die kanadische Staatsbürgerschaft an. 
Da sind wir knapp vor der Pandemie, etwa 2017, angelangt. Das ist einer der Stolpersteine, die diesen, vermutliche letzten Roman des Bestsellerautors, nicht zu seinem besten machen. Irving erzählt quasi rückblickend, Adam ist 1941 geboren. Doch die Ereignisse der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts werden nur gestreift, wie auch die Personen nur als schematische Figuren durch die Szenen wandern. Sie sind nur Konstrukte der Fantasie, Klischees der non binären Welt, sympathisch und liebenswert.  Wie sein Schöpfer will auch Adam Ringer werden, doch die Erfolge bleiben aus. © menwrestlingwomen.blogspot.com
Adam liebt, wie der Autor selbst, liebt alle, mit denen er aufgewachsen ist. Doch er sieht nur die Außenseite der „anderen“, was sie denken, wie sie unter der Ablehnung und dem Hass, der ihnen aus der normal genannten Welt entgegenschlägt, leiden, was sie träumen und ersehnen, kann Adam den Leserinnen nicht erzählen. So lassen mich auch die an der in den 1980er Jahren grassierenden HIV-Infektion sterbenden Freunde kalt, die Mr. Barlow mit scheelem Blick oder hasserfüllt betrachtenden Ringer und der Tod des besten Freundes im Vietnam-Krieg kalt. Die Aufreihung skurriler bis komischer Figuren, die ihrem eigenen Lebensstil ungeachtet der Umgebung treu bleiben, ermüdet nach der ersten Begeisterung. Die Songschreiberin Judith  Holofernes hat das schon 2013 registriert und John Irving mit anderen hochgelobten Autoren ein köstliches Gedicht geschrieben und vertont.

John Irving
wenn ich dir ein Lied sing
legst du dann den Stift hin
und lässt mich in Ruh

John Irving
wenn ich dir den Hut bring
ziehst du dann beim Rausgehen
die Tür leise zu

Deine perfekten Katastrophen nimm gleich mit
Seit ich dich kenn, verfolgst du mich auf Schritt und Tritt
Ich weiß, du schreibst für mich ein Leben
voller Komik und Poesie
Aber John, John, John
brich’s nicht über’s Knie
[…] © Judith Holefernes


Den genussvollen Lesefluss stören auch die Wiederholungen so mancher Beobachtung und Szene. Die Übersetzung der tausend Seiten im Eiltempo haben Anna-Nina Kroll und Peter Torberg übernommen. Ein Schnellschuss quasi, da muss es passieren, dass so mancher deutsche Ausdruck gar nicht in den Kontext passt. Adam will nicht skifahen wie seine Mutter, aber das Schneewandern mit Mr. Barlow, seinem Stiefvater (später Stiefmutter) macht ihm Freude. © https://cdn.kroati.de/i Foto: iztok-medjaNicht genug an den von Adam beobachteten Szenen, er, respektive Autor Irving, belästigt die Leserin auch mit zwei unendlich langweiligen, nahezu handlungslosen Drehbüchern. Insgesamt okkupieren die beiden von Adam aus dem Off kommentierten Szenen 139 Seiten. Sie könnten problemlos gestrichen werden, ohne dass etwas an Informationen verloren ginge. Sie handeln vor allem von der Suche nach seinem Vater, der als Teenager in Aspen und auch als Schauspieler und Filmregisseur immer wieder vor Adam erscheint. Natürlich gibt es auch in Aspen, wo Adam auf seiner Suche landet, ein Drama. Doch die Anhäufung von Dramen stumpft ab, die Neugier, wie Adams Leben weitergeht, hält sich in Grenzen. Adam erhält häufig Besuch von längst Verstorbenen. Im Bild: Ausschnitt aus dem Video The Raft / Das Floß von  Bill Viola, 2004. Gesehen in der Ausstellung im Palazzo Reale, Mailand, 24.2. bis 25.6.2023. © creative commons License /  palazzorealemilano-it/Dass der Icherzähler auch ein Bombenattentat überleben wird, ist ohnehin klar, und ob der gefundene Filmschauspieler Paul Goode, in dem er den Hotelpagen auf der alten Fotogriefe zu erkennen meint, tatsächlich sein Erzeuger ist, muss ich gar nicht wissen. Darum geht es wohl auch nicht, denn auch Adam ist, bei aller Ähnlichkeit mit seinem Schöpfer, dem Autor John Irving, nur eine eher blasse Figur, die versucht, ein halbes Jahrhundert und eine nicht unbedingt den herrschenden Normen entsprechende Familie zu bewältigen.
Hoffnungsschimmer für Neoleserinnen:  Wer noch nie mit dem reichen und ohne Zweifel großartigen Œuvre Irvings Bekanntschaft geschlossen hat, John irving: Laßt die Bären los!, Cover aller Auflagen. ©  Diogenes Verlag weder Garp und wie er die Welt sah (verfilmt 1982 mit Robin Williams), noch Das Hotel New Hampshire (verfilmt 1984 mit Jodie Foster) oder Gottes Werk und Teufels Beitrag (verfilmt 1999 mit Michael Caine) oder, oder … gelesen hat, ist gut dran. Die unkonventionellen Charaktere und skurrilen Figurenkonstellationen mitsamt den komischen bis grotesken Einfällen des Autors sind alle gesammelt im Letzten Sessellift zu finden. Dass Irving mit den Drehbucheinschüben und der Aufteilung in sich geschlossene Szenen eine Verfilmung vorbereitet, kann nicht ausgeschlossen werden. Der letzte Sessellift: Cover des aktuellen Romans. © Diogenes Verlag Übrigens, der erste Roman, den Irving veröffentlicht hat, ist in  Wien entstanden und nicht verfilmt worden. 1962/63 hat zwei Wiener Semester verbracht und oft den Schönbrunner Tiergarten besucht. Besonders gerne ist er vor dem Bärenkäfig gestanden. Setting Free the Bears heißt folgerichtig sein erster1965 erschienener Roman. Auf Deutsch ist er wenig später vom Diogenes Verlagaufgelegt worden. Die jüngste Auflage von Laßt die Bären los! ist 1987 als Taschenbuch erschienen. Irving ist Diogenes treu geblieben, sämtliche Übersetzungen seiner Romane sind im Schweizer Verlag erschienen. 

John Irving. Der letzte Sessellift / The Last Chairlift, aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. 1088 Seiten. € 37.10. Diogenes 2023. Auch erhältlich als E-Book, € 34,99.