
Auf den Beeten der Toten

Mit einem choreografischen Gedicht endete am 10. August die diesjährige Ausgabe von ImPulsTanz: Épique! (Pour Yikakou) titelt Nadia Beugré ihre neue Arbeit. Episch sind die darin anklingenden Geschichten tatsächlich. Erleben durfte man eine magische Reise durch die Bühnenlandschaft des Wiener Odeon und weit darüber hinaus.
Nadia Beugrés Reise beginnt nicht mit der Protagonistin selbst, sondern ihrer wunderbaren Begleiterin, der Sängerin und Schlagwerkerin Charlotte Dali. Gesänge, Percussion-Einlagen, in denen die Körper der beiden Performerinnen zu wundersamen, schmerzhaften Instrumenten werden, langsame, tranceartige Schreitbewegungen, dann wieder wild durch den Raum wuchernde Tänze bilden den dramaturgischen Kern der Suche nach den Spuren einer Kindheit und den Erinnerungen daran, von den nichts mehr als Wege, Bäume und staubbedeckte Gräber noch zu finden sind.
Aus diesen wenigen im reduzierten Bühnenbild von Jean-Christophe Lanquetin angedeuteten Relikten lässt Beugré eine Welt der Erinnerungen erstehen, in denen die Geister der Toten spür- und hörbar werden. Ein angedeuteter Baum, dessen tote Ästen die beiden Performerinnen in Ketten, Gürtel und Kopfschmuck verwandeln. Taschentücher aus Schweiß und Tränen, von denen Beugré zuerst einige an das Publikum verteilt, um die verbleibenden auf dem Bühnenboden auszustreuen. Aus einem kleinen Haufen Kaolin entstehen gewundene Wege, ein Dorf, ein Ortskern, in dem man die einst hier lebenden Menschen wiederzusehen glaubt. Lange schon nicht mehr hier lebende Verwandte, Freunde, Bewohner:innen, für die kurz darauf aus denselben Taschentüchern eine Art Begräbnisstätte auf dem Boden errichtet und mit einem zu Beginn von Beugré zusammengerollten und unter dem Baum gelegten weißen Baumwolltuch bedeckt wird.
Wieder ein neuer Moment des Erinnerns: Beugré legt ihre an einen „Safari“-Reisende (eine weitere kluge Anspielung in dieser dichten Choreografie: beige Boots, Hemd, Hose) erinnernde Bekleidung ab und beginnt auf dem eben entstandenen Gedenkort mit heruntergelassener Hose einen Tanz der Nachgeborenen, ehe sie sich am Ende der Performance die Haare hochbindet und ihren Körper mit den Stäben, die zuvor auch als Percussion-Instrumente, Holzbündel und „Stuhl“ gedient haben, bearbeitet: Beugré bohrt sie in Haare, (wieder hochgezogener) Hose, BH und wird so selbst zu einer fragilen, verletzlichen Skulptur, einem lebendigen Schmerzensort.
Einen euphorischen Höhepunkt stellte kurz davor ein gemeinsames Ritual der beiden Performerinnen dar. Beugré und Dali nehmen dabei große Mengen weißer Sheabutter in die Hände, um damit ihre Gesichter, Körper und Kleidung einzustreichen und ihre Wangen minutenlang in „weiße“, fette Schlaginstrumente umzufunktionieren.
„Gbahihonon“ – „die Frau, die sagt, was sie sieht“ – wurde Beugré einst von ihrer Großmutter genannt. In Épique! erzählt sie davon, was sie an jenem Ort sieht, an dem es nur auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen gibt. Wenn die Geister zu tanzen begonnen haben und Beugré sich zur mächtigen Zauberin Dô-Kamissa und zum sprachgewaltigen Orakel der Vergangenheit verwandelt hat, endet die Reise im Heute – Beugré, in schwarzer, von Stäben umgebenen Spitzunterwäsche.
„Das Dorf finden heißt den Weg finden“, schreibt Produzentin und Kuratorin Virginie Dupray im Begleittext. Den Weg in das verschwundene Dorf ihres Vaters an der Côte d’Ivoire, Yikakou, zeichnet Beugré in Épique! eindringlich nach und schreibt Zeile um Zeile ein einstündiges getanztes und gesungenes Gedicht über den Körper als Gedächtnisort, dessen reimlose Schönheit einen kraftvollen Abschluss dieser außergewöhnlichen ImPulsTanz-Ausgabe bescherte.
Nadia Beugré / Libr’Arts: Épique! (pour Yikakou), ImPulsTanz im Odeon, 8. +. 10.8.2025; künstlerische Leitung und Performance: Nadia Beugré;
Performance und Live-Musik: Charlotte Dali (Stimme, Percussion);
Dramaturgie: Kader Lassina Touré; Bühnenbild: Jean-Christophe Lanquetin; Licht und technische Leitung: Paulin Ouedraogo
Fotos: © K. I. Toure, Werner Strouven