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Festspielhaus St. Pölten: „Sacre“ von Sasha Waltz

Lazy Summer Day zur Musik Debussys © Bernd Uhlig

Mit einem gut gemischten Abend eröffnete das Ensemble unter Sasha Waltz die Tanzsaison im Festspielhaus St. Pölten. „Sacre“ nennt die Choreografin den dreiteiligen Abend, der mit Debussy beginnt und nach Berlioz samt Pause Waltzs Interpretation von Igor Strawinskys unsterblicher, hundertjähriger Ballettmusik „Le sacre du printemps“ zeigt. Schon in der Einführung hat Intendantin Brigitte Fürle dem Auditorium klar gemacht, wer Sasha Waltz ist, „in Deutschland die Größte“. Da weiß man was man bekommt. Dementsprechend enthusiastisch ist der Applaus.

Hübsch der Beginn mit „L’Après midi d’un faune“ von Claude Debussy. Waclaw Nijinksy hat die Choreografie der sinfonischen Dichtung 1912 in Paris uraufgeführt. Anders als beim „Sacre“, als die Musik Strawinskys das Publikum kreischen ließ, war es beim „Faune“ Nijinskys angeblich sehr deutliche erotische Interpretation des in der heißen Nachmittagssonne von den Nymphen fantasierenden Fauns. Die Schwüle die Debussys Musik (nach einem Gedicht von Stéphane Mallarmé) evozieren soll, hat auch Sasha Waltz zu ihrer lässigen Choreografie eingefangen. In einem bunten Popart-Geviert entsteht Strandbadatmosphäre. Die Tänzer_innen in ebenso bunten Trikots, spazieren über den Rasen, liegen blinzelnd in der Sonne, dehnen, recken, strecken, sich, flirten und liebäugeln miteinander, wohin das führt, bei so viel nackter Haut, weiß man ja – keine Skrupel: Auch die Erotik ist dan diesem Nachmittag gedämpft, so wie so  spielt sich alles, der Hitze entsprechend, in Slow Motion ab. Am Ende machen die Badegäste schlapp, klappen einfach zusammen. Das kleine Stückerl hat Waltz 2013 in der Berliner Staatsoper (zur Zeit im Schillertheater) uraufgeführt.

Höchsten Hörgenuss brachte an diesem gemischten Abend das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter Titus Engel, der mit dem Ballettensemble aus Berlin gekommen ist. In der Umbaupause erfreute der Flötist Walter Schober zusätzlich mit Debussys Komposition„Syrinx“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man’s eben mit der griechischen Mythologie. Genau von ihr ist es, der Nymphe Syrinx, die später zum Schilfrohr und danach zur Flöte wird, von der der schwitzende Faun träumt. Schober jedenfalls war munter und spielte die klagende Weise lupenrein. Scène d'amour zur musik von Berlioz © Bernd Uhlig

„Scène d’amour“ zur Musik von Hector Berlioz zeigt ein Liebespaar in neoklassischem Stil. Der Pas de deux ist 2007 für die Pariser Oper entstanden (Aurélie Dupont tanzte den weiblichen Part) und auch in der Mailänder Scala aufgeführt worden. Die Musik ist aus Berlioz’ symphonischen Werk „Roméo et Juliette“, in der Nachfolge von Beethovens 9. Symphonie komponiert und 1839 mit Sängern, Sängerinnen, Chor und großem Orchester uraufgeführt. Die Liebesszene entspricht der Schlafzimmerszene in John Crankos Ballett „Romeo und Julia“. Ein Vergleich erübrigt sich.

Waltz erklärt die Kombination der Stücke für einen Abend mit der Chronologie der Musikgeschichte und daher sollte eigentlich mit Berlioz begonnen werden, er ist der älteste, ein Spätromantiker. Doch einen etwas langweiliger Pas de deux kann dem Publikum nicht als Eröffnung der Eröffnung zugemutet werden. Also lieber den Impressionisten an den Anfang, der Titel „Der Nachmittag eines Fauns“ ist mit Erwartungen beladen. Da war doch was, ach ja, Nijinsky im Profil tanzend. Unerhört.
Sacre zur Musik von Strawinsky  © Bernd UhligErwartungen zu erfüllen, sieht Waltz jedoch nicht als ihre Aufgabe. Wie auch immer, Strawinsky ist für sie der musikalische Beginn der Moderne. Es gibt kaum Choreografinnen / Choreografen die sich nicht mit Strawinskys Musik beschäftigt, sie in Bewegung und Gesten umgesetzt haben. Schließlich ist der Sacre ja al Ballttmusik geschaffen. Wurde auch in 100 Jahren vielfach interpetiert. Meine Marksteine: Maurice Béjart (1959), Pina Bausch (1975) und das Projekt „Rhythm is it!“, mit 250 Berliner Jugendlichen des Tanzpädagogen Royston Maldoom. Bei der Aufführung 2004 dirigierte Simon Rattle die Berliner Philharmoniker. Die, die sich auch vom Jubeljahr 2013 nicht antreiben ließen und weiterhin darauf verzichten auch ihren  Sacre-Senf  auf die Bühne zu bringen, wissen warum: „Es ist alles gesagt.“
So kann auch Sasha Waltz mit ihrer, im Sacre-Jubiläumsjahr 2013 in Berlin uraufgeführten, Version nichts Neues und schon gar nichts Aufregendes tanzen lassen. Eine Gemeinschaft in der Krise, ein Opfer muss gefunden werden, um die Katastrophe abzuwenden. Nicht nur die  Umwelt bedarf der Rettung. Das Ritual nimmt seinen Lauf. Es wird gesprungen und gehoben, gestampft und gedreht. Pas de deux, Trio, geballte Menge, Chaos, retten, flüchten, Hilfe bei den anderen suchen. Das Ende ist unabwendbar: Eine muss sterben, damit alle anderen leben. So ist es der Brauch.  Ritual schafft Ordnung. Wenn die Priesterinnen zum Gebet oder sonst wohin schreiten, feierlich, gemessen, dann entsteht so etwas wie eine heilige Stimmung. Für diese archaischen Szenen hat sich Waltz von der Urfassung Nijinskys inspirieren lassen.Sacre – das Ensemble © Bernd Uhlig

Gemeinsam mit Pia Maier Schriever hat Waltz auch das Bühnenbild entworfen. Leer ist der Kasten, den die Tänzerinnen und Tänzer einzeln, zu zweit zu dritt, aus dem Nebel kommend, allmählich füllen. Der Boden mit Steinchen bedeckt, hier wächst nichts mehr. Der schwarze Hintergrund ist durch einen goldschimmernden Riss geteilt, der sich allmählich nach unten vergrößert. Am Ende ist es ein Dolch, der dem rot gekleideten weiblichen Opfer ins Herz sticht. Das macht Eindruck, katapultiert mich aber ebenso wenig wie die gesamte Choreografie aus dem gestreiften Sessel. Wenn Strawinsky von der Natur spricht, dann meint er wohl auch die Umwelt, also auch inhaltlich nichts Neues.. Man muss nur nachlesen, was der Komponist zu seinem „Frühlingsopfer“ geschrieben hat.

Sasha Waltz ist sichtbar musikalisch und zieht die Bewegungen aus der Musik. Das sieht schön aus, doch ist allein nicht befriedigend. Bei aller fast zu glatten Schönheit der Choreografie, trotz der präzise eingesetzten Energie des Ensembles: Strawinsky ist der Star des Abends. Das Publikum bedankt sich bei allen, Tänzer_innen, Orchester und Dirigenten, begeistert und lautstark. Ehrlich gesagt, eine weitere Choreografin, die in Deutschland ein großes Ensemble beschäftigt, fällt mir auch nicht. Pina Bausch ist seit sieben Jahren tot. Sie bleibt unersetzlich.

Sasha Waltz; „Sacre“, 24. September 2016 im Festspielhaus St. Pölten.