Ballett: Die mageren Jahre sind beendet
In der Genesis ist von sieben dürren Jahren die Rede, die das ägyptische Volk hungern lassen. In Wien waren es glücklicherweise nur fünf. Fünf magere Jahre, die Ballettfreunde darben ließen. Die neue Ballettdirektorin, Alessandra Ferri, lässt jetzt auf fette, glanzvolle Zeiten hoffen. Mit einer Neueinstudierung des romantischen Balletts von Elena Tschernischova feiert sie ihren Einstand. Die erste Aufführung mit Tänzerinnen, die mit dem Repertoire vertraut sind, geriet zu einer wahren Feierstunde.
Die Protagonistinnen (Giselle, Elena Bottaro; Masayu Kimoto, Herzog Albrecht; Hilarion, der Wildhüter, Giorgio Fourés), zeigten neben technischer Brillanz auch fein ziselierte Charakterzeichnung. Neu tanzten ihre Rollen ohne Fehl und tadel Ioanna Avraam als Myrtha, Königin der Willis, Adrés Garcia Torres als Wilfrid, Albrechts Freund und Gaia Fredianelli als Begleiterin von Myrtha. Auch das Corps de Ballet, mit vielen Rollen- und auch Hausdebüts – Direktorin Ferri hat das Corps de Ballet ebenso durch neue Engagements ergänzt wie die Gruppe der Solistinnen und Solisten – glänzte in neuer Frische.
Deutlich war an diesem ersten Ballettabend der neuen Saison zu spüren, dass Alessandra Ferri sowohl das 1841 in Paris uraufgeführte Ballett als auch die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts am Herzen liegen.
Giselle, die Geschichte von der Bauerntochter, die an gebrochenem Herzen stirbt, nachdem sie von ihrem Verführer, dem verkleideten Herzog Albrecht, verraten worden ist, war eine der Paraderollen der Prima Ballerina Assoluta Alessandra Ferri. Mit 21 Jahren debütierte sie an der Seite von Mikhail Baryshnikov, Choreografin Tschernischova (1991–1993, Leiterin des Staatsopernballetts in Wien) war Erste Ballettmeisterin im American Ballet Theatre und hat mit der jungen Alessandra die Rolle der Giselle einstudiert. In Wien hat jetzt die Tänzerin die Rolle einer Coache übernommen und mit ihrem ehemaligen Partner Julio Bocca die Darstellerinnen der Giselle betreut.
Doch auch die Ballettmeisterinnen und -meister hatten einiges zu tun, um das Staatsballett wieder in Form zu bringen. Für die Aufführungsserie waren / sind Pino Alosa, Lukas Gaudernak, Marcelo Gomes, Barbora Kohoutková, Louisa Rachedi im Einsatz. Sie alle haben schwere Arbeit geleistet – so ambitioniert, tanzlustig und frohgemut war das Corps schon lange nicht zu sehen.
Wesentlichen Anteil am Gelingen des Abends hat auch der Dirigent Luciano Di Martino. Am Pult des Staatsopernorchesters ist auch er ein Debütant. Direktorin Ferri hat ihn kennengelernt, als sie in John Neumeiers Ballett Duse mitgewirkt hat. Di Martino hat dirigiert. Wie intensiv er die Partitur und auch die Tänzerinnen studiert hat, war vor allem im zweiten (weißen) Akt zu sehen.
Die Zeit ist quasi aufgehoben, der Stab im Graben schwebt ebenso in der Luft wie die zur Willis gewandelte tote Giselle (Elena Bottaro). Der reuige Albrecht hält die ephemere Gestalt noch einmal im Arm und in der Loge wird der Atem angehalten. Geisterhaft führen auch die Willis ihr nächtliches Ritual auf, tanzen Hilarion in den Tod. Giorgio Fourés erhält Szenenapplaus.
Afficionadas haben wohl auch die kleinen Veränderungen in der Choreografie erkannt, darüber später: Der erste Teil der Wiederaufnahme mit vier Abenden ist noch nicht zu Ende. Der Zweite Teil in anderer Besetzung ist mit fünf Vorstellungen im Frühjahr 2026 angesetzt.
Giselle, fantastisches Ballett in zwei Akten
Choreografie & Inszenierung: Elena Tschernischova nach Jean Coralli, Jules Perrot & Marius Petipa.
Musik. Adolphe Adam, mit einer Einlage (Bauern-Pas de Quatre) von Friedrich Burgmüller. Musikalische Leitung: Luciano Di Martino.
Wiener Staatsballett mit den Solistinnen Elena Bottaro, Masayu Kimoto, Giorgio Fourés, Ioanna Avraam, Natalya Butchko, Gaia Fredianelli und anderen.
Fotos: © Ashley Taylor