
Percival Everett: „Dr. No“ sucht nach nichts

Nach dem Erfolg des mit dem Pulitzer-Preis für Belletristik belohnten Romans, James, von Percival Everett hat Nikolaus Stingl für den Hanser Verlag auch den im englischen Original zwei Jahre davor erschienenen Roman Dr. No übersetzt. In der Abenteuergeschichte, die der Wala Kitu, ein Professor der Mathematik erzählt, geht es um nichts. Tatsächlich, um nichts.
Wala soll für den Millionär und Bösewicht John Sill das in Fort Knox aufbewahrte Nichts entwenden. Sills braucht das Nichts für seinen Vernichtungsfeldzug gegen Amerika. Der Titel deutet es bereits an, Dr. No ist eine Parodie auf Jan Flemings Romanserie um den britischen Geheimagenten 007 James Bond, die mitten im Kalten Krieg, ab 1953 die Leserinnen begeistert hat. Weltweit Bekanntheit erreichte James Bond durch die Verfilmungen, die unmittelbar nach den Romanauflagen in den Kinos gelandet sind. Flemings sechster-Roman Dr. No ist 1958 erschienen (deutsch: James Bond jagt Dr. No, 1965) und 1962 mit Sean Connery als 007 und Joseph Wiseman als Dr. Julius No in den Kinos gelandet.
John Milton Bradley Sills beschließt, nachdem er den Mörder seines Vaters im Gefängnis besucht hat, „ein Schurke zu werden. Aber wie wird man ein Schurke, eine Kulturkrankheit, ein Feind des Systems? Dafür griff John Milton Bradley auf das zurück, was er am besten kannte: James-Bond-Filme.“ In einem Café erklärt Sills dem gutgläubigen Mathematiker, der nichts im Kopf hat außer Mathematik, was ein Bond-Schurke ist: „Sie wissen schon, Böses um des Bösen willen.“
Percy Everett hält sich in seinem über die Jagd nach dem Nichts – „Die Wichtigkeit von nichts besteht darin, dass es der Maßstab dessen ist, was nicht nichts ist. Ist nichts dasselbe wie das Nichts?“ – weniger an Jan Fleming als an den Vertreter der Postmoderne Thomas Pynchon, geboren 1937. Als dessen Hauptwerk gilt der Roman Die Enden der Parabel (englisch: Gravity’s Rainbow) auf Deutsch erschienen 1981. Randbemerkung: 1974 ist das Buch für den Pulitzer-Preis nominiert e. Doch, leider! Das Vergabekomitee hat die Juryentscheidung nicht mittragen wollen, der Roman sei obszön und unlesbar lautete die Begründung.. Der Preis ist in diesem Jahr schließlich nicht vergeben worden.(Quelle: Wikipedia)
Mi Zeit- und Ortssprüngen arbeitet auch Percival. Beim Lesen muss man sich immer wieder klarmachen, dass sowohl Wala Kitu, der Nichts-Spezialist, als auch sämtliche Mit- und Gegenspielerinnen, selbst der „beinahe albinohafte Vizepräsident Shilling“ keine Weißen sind. Der Oberschurke John Sill („ein angenehmer Mensch ethnisch nicht recht einzuordnen, mit einem Pferdegesicht und krausem Haar“) will mit dem Nichts aus Fort Knox, dem legendären Goldlager in Kentucky, die USA vernichten, um den Ermordung seiner Vorfahren und aller Schwarzen in Amerika zu rächen. Zu diesem Zweck engagiert er Wala, bringt ihn in seine Gewalt und überweist ihm fürs erste vorsorglich drei Millionen Dollar. Die von Wala geschätzte Kollegin Eigen Vector macht Sill zu seiner Geliebten. In seinen Privatjets jagt er die beiden samt Walas einbeinigem Hund, dessen Gedanken der Professor hören kann, quer durch Amerika und über den Ozean. Die Häuser, in denen Wala und Eigen untergebracht sind, gleichen einander als wären sie aus einem Ei gekrochen und die ausgeklügelten Fluchtpläne nützen den beiden Nichtsfachleuten gar nichts. Sills Augen sind überall und wer nicht pariert, ihn enttäuscht oder ihm widerspricht, ist tot bevor er (außer Eigen kommt nur eine Frau vor, Gloria, doch die ist vermutlich doch ein Android) Pip sagen kann. Haifische im unterirdischen Becken sind Sills Absichten ebenso nützlich wie Schusswaffen. Das muss auch der Vizepräsident der USA erfahren, das heißt erfahren hat nichts mehr, eher hat er ihn erlitten den tödlichen Schuss.
Still ist ein umgänglicher Mensch, solange sein Wille geschieht, beim Kartoffelpuffer-Mahl mit sämtlichen Mitarbeitern singt er auch gerne:
Wir kommen, woher wir kommen, / Und wir geh’n, wohin wir geh’n ,/ Und entsorgen, wer uns im Weg steht, / Auf Nimmerwiederseh’n
Wir sind schon morgens Schurken / Und üble Typen bei Nacht, / Wir bekämpfen die Mächte des Guten / Mit eiskalter Niedertracht …
Wala geht es um die Mathematik und die Erforschung des Nichts, John geht es Rache, um Massenvernichtungswaffen und die Auslöschung Amerikas. Wie das funktionieren wird, hat er bereits bewiesen, Quincy ist, dank Prof. Wala Kitus Kenntnis von nichts, bereits verschwunden. Sill hat die Stadt in Massachusetts zur Vernichtung ausgewählt, weil dort viele weiße Rassisten wohnen: „In Quincy hat man mich mal Nigger genannt.“ Neben allerhand mathematischen Thesen und Merksätzen, die allerdings kaum Bezug zur absichtlich verworrenen Handlung haben, unterhalten vor allem die Wortspiele nicht nur rund um nichts. Einmal fragt ein Kollege den Nichtsforscher Wala, „woher ich so klug sei, und ich sagte: ‚Weil nichts eine Rolle spielt.‘ Das empfand er als abschätzig und ließ mich stehen. Aber nichts spielt eine Rolle.“ Einfach war die Übersetzungsarbeit für Nikolaus Stingl nicht. Nicht jede Pointe ist übersetzbar. In einem Traum von Wala verwechselt seine Kollegin Eigen Pie mit Pi. In der Übersetzung geht der Witz verloren, wie viele Gags und Wortspiele sonst noch verloren gehen, ist Thema einer Doktorarbeit. Unbestritten bleibt, dass Stingl ein hervorragender Übersetzer ist, der auch mit Everetts Stil schon lange vertraut ist. Nicht verloren geht der ernsthafte Subtext, den Percival Everett in der überaus komischen Geschichte mitschreibt. Immer wieder ist es Trigo, der einbeinige Bulldogge Kitus, der Hintergrundgeschichten erzählt, weiß, warum Sill so wütend und grausam ist, und der Leserin klarmacht, dass man lachen darf, auch wenn man weinen sollte. Schließlich ist nichts wichtig. Oder doch? Everett beschreibt sich schließlich selbst als „pathologisch ironisch“ und wildert in sämtlichen Genres der Literatur. Von der Satire über Krimis und Thriller bis zum Western ist alles zu finden auch philosophische Thesenromane, Gedichte und sogar ein Kinderbuch hat der fast 70-jährige in den vergangenen 35 Jahren veröffentlicht. Der Inhalt dieser unterschiedlichen Formen ist immer der gleiche: Rassismus, Fragen der Ethnie und Identität und Ungleichbehandlung in den USA.
Am Ende des Spionageromans – nicht gerade ein Thriller, eher amüsant als thrilling, jedoch ein riesiges Lesevergnügen – finden Sill und Kitu eine Schachtel in Fort Knox: „In der Schachtel ist etwas“, sagt Kito. „Genau, Wala, und dieses Etwas ist nichts.“ (Sill) „Nicht nichts.“ (Wala) „Und ich sage es ist eben nicht-nichts, und damit ist es nichts.“ (Sill) Die Diskussion geht immer weiter bis, bis nichts geschieht.
Percival Everett: Dr. No / Originaltitel Dr. No, Graywolf Press, 2022, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, 320 Seiten, Hanser, 2025. € 26,80. E-Book € 19,99.