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Am Strand mit Blick ins unendliche Nichts

Menschen am Strand. Sie hören die Brandung, können das Meer nicht sehen.

Miramar – so werden in Urlaubsländern romanischer Zunge Zimmer mit Meerblick angepriesen, auch wenn man sich mitunter aus dem Fenster hängen muss, um den Schaum der Wellen zu sehen. Wenn Choreograf Christian Rizzo in seinem Ballett miramar diesen Blick verspricht, dann nützt kein akrobatisches Kunststück: Das Meer ist nicht zu sehen. Zehn Tänzer:innen plus eine Tänzerin (das Programmh nennt 10+1) blicken ins Nichts. Das Publikum sieht nur deren Rücken. Ein beklemmendes, geheimnisvolles, magisches Tanzstück. Am 21. Juli war Rizzos Compagnie aus Montpellier im Rahmen des ImPulsTanzFestival im Volkstheater zu Gast. Die Beklommenheit hat anfangs auch den verdienten Applaus gedämpft.

Die Tänzer:innen schauen aufs Meer, das Publikum schaut auf den Rücken der Tänzer:innen.Rizzo, Choreograf, Regisseur, bildender Künstler und seit 2015 Direktor des Centre chorégraphique national Montpellier Occitanie (umbenannt in: Institut chorégraphique international [ICI] – Centre chorégraphique national de Montpellier/Occitanie [CCN]), macht gleich zu Beginn deutlich: Ich erfülle eure Sehnsüchte nicht, das Meer werdet ihr nicht sehen. Im schwarz ausgeschlagenen Guckkasten wandert ein einsamer Lichtstrahl von vorne nach hinten, wo eine Tänzerin auftaucht und sich mit fliegendem, golden aufleuchtendem Haar in die Brandung wirft. Die ist den gesamten Abend über zu hören, aber niemals zu sehen. Nicht vom Publikum, doch wie es scheint, auch nicht von den Tänzer:innen. Die Wellen schwellen in stetigem Rauschen an und an, pulsierend und hypnotisierend, es gibt kein Entkommen, keine Erlösung aus der stetigen Spannung. Ein magisches Ballett aus Licht, Klang und Tanz, gezeigt von 10 + 1 Tänzer:innen.
Die Einsame, blickt hin unf wieder nach oben, wo sich die Segmente von zehn Lichtbalken in rätselhaftem Rhythmus von hinten auch vorn schieben, aufblinken, verlöschen, oft ist die Bühne hell, doch die Tänzer:innen sind im Dunkel. Noch ist die Frau allein, manchmal durch das sie erfassende Licht glühend, als würde sie von einem Strahlenkranz eingehüllt, dann wieder von der Dunkelheit fast verschluckt. Das Solo beinhaltet im Bewegungsablauf und den Emotionen schon das gesamte Stück, das in der Folge von einer Gruppe aus zehn Tänzer:innen gezeigt wird. Die Männer heben die Frauen in die Höhe, tragen sie wer weiß wohin.
Die Solistin verschwindet. Die Gruppe will sie nicht, doch diese selbst ist auch keine Einheit. Immer wieder bricht eine / einer aus, macht sich selbstständig, es bilden sich Paare, die wieder auseinanderdriften, Trios, die im Hintergrund in seltsamen Verschlingungen ihr Spiel treiben. Immer wieder starren die Zehn in die Ferne, ins Nichts, wir sehen nur ihren Rücken (Caspar David Friedrich lässt grüßen), manchmal heben sie einen Arm, der ragt dann ins Licht.
Die Musik schwillt und schwillt, die Spannung ist nahezu unerträglich. Warum drehen sich diese Menschen nicht um, wer sind sie? Urlauber:innen sicher nicht, Gestrandete, Verirrte, Heimatsuchende? Sie bewegen sich in einer rätselhaften Geometrie, alle gemeinsam oder einzeln . Sie gehen, springen liegen flach auf dem Boden, rutschen ein wenig in eine bestimmte Richtung, stehen wieder auf, alles in einem ausgeklügelten, präzisen Takt. Choreograf Christian Rizzo, fotografiert von Mario Sinistaj.
Wer gibt ihn an, wer hat dieses unbarmherzige Metronom, das nur die Tänzer:innen hören, eingestellt? Irritierend ist die Umkehrung der Sehgewohnheiten. Das Publikum schaut in dieselbe Richtung wie die Menschen auf der Bühne, die keinen Schritt weiter kommen, sich im abgezirkelten Bühnenraum bewegen, denn hinter dem Horizont ist nichts, das Nichts, eine schwarze Bühnenwand. Worauf die Tanzenden warten, bleibt unbekannt, worauf das Publikum wartet, ist klar: Dass wir den Menschen endlich in die Augen schauen dürfen, dass wir einen Hinweis bekommen, wer sie sind, worauf sie warten, was die Welt so dunkel und zukunftslos hält. Allmählich bildet sich eine kalte Kugel in meinem Bauch, sie wird mit dem Anschwellen der pulsierenden Musik immer schwerer.
Die noch vorn und hinten wandernden Lichtbalken blicken stumm auf die im synkopischen Rhythmus tanzende Gruppe. Sind es Drohnen? Geben sie die Befehle, die immer wieder die gesamte Gruppe oder auch Teile davon in Bewegung oder Ruhe versetzen? Vier verschränken sich zu einer Linie, tanzen einen fremden Volkstanz in Zeitlupe. Dann spüren sie den Befehl, sich niederzulegen, stillzuliegen, die akustischen Wellen stampfen, der Beat wird lauter und lauter, als ob ein Heer im Gleichschritt heranmarschieren würde. Ein bunt gekleidetes Wesen, Frau oder Mann, in zusammengewürfelter Tracht, taucht aus dem Nichts hinter dem Horizont hervor, schwingt ein goldenes Tuch, um auf Befehl wieder im Dunkeln unterzutauchen. Die Sehnsucht nach dem Meeresblick erfüllt Rizzo nicht. Doch er legt den Aufführungsfotos eines vom Strand bei Biarritz bei. Im schwachen Abendlicht, ohne Sonne. Hoffnung gibt es keine. Die Welt bleibt finster, hinter dem Horizont ist nichts, ein unsichtbares Nirwana.
Das Publikum bleibt mit verkrampften Händen, kalten Fingern, einem Klumpen im Magen und tiefen Seufzern in der Brust ratlos zurück. Nur zögernd wagt es, zu applaudieren. Die großartigen Tänzer:innen wollen bedankt sein, schenken dem Auditorium ein Lächeln. Die Spannung löst sich, einzelne Jubelschreie steigen aus den hinteren Reihen. Wir nehmen die ungelösten Rätsel mit nach Hause, lassen uns von der poetischen Magie und dem Zusammenspiel von Musik, Licht und Tanz trösten.

Christian Rizzo / ICI–CCN Montpellier/ Occitanie: Miramar, Tanzstück für 10 + 1 Tänzer:innen, ImPulsTanz im Volkstheater, 21. Juli 2023.
Entstanden während der Pandemie, Uraufführung in Annecy / Bonlieu Scène national, Jänner 2022.
Choreografie, Bühne, Kostüm: Christian Rizzo: Performance: Youness Aboulakoul, Nefeii Asteriou, Lauren Bolze, Lee Davern, Fanny Didelot, Nathan Freyermuth, Pep Garrigues, Harris Gkekas, Raoul Riva, Vania Vaneau, Anna Vanneau. Lichtdesign: Caty Olive; Musik: Gerome Nox.
Photos: © Marc Domage