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Was der Körper erbt und was ihn prägt

Delicate: Sasha Portyannikova, Adél Juhász, Karin Pauer

Auch der Körper spricht, Wörter sind nicht notwendig. Mitunter beginnt ein Tanzstück doch mit Wörtern, langen Gesprächen, Erkenntnissen und Bekenntnissen. Dann werden die Wörter wieder weggelassen, in Bewegung, in Tanz umgewandelt. Adél Juhász, Karin Pauer und Sasha Portyannikova erzählen in der Choreografie Delicate von Anna Biczók ohne Wörter, was sie unterscheidet und was sie eint. Die Wien-Premiere von Delicate am 21. Juli hat im Rahmen von ImPulsTanzFestival / [8:tension] stattgefunden.

Probe in Ungarn, wo die Uraufführung stattgefunden hat: Adél Juhász, Karin Pauer, Sasha Portyannikova.Nicht nur die persönliche Geschichte der Frauen, mit unterschiedlicher Herkunft und eigenem kulturellen Hintergrund, bringt Anna Biczók auf die Bühne, sondern, quasi als Einleitung auch einen Blick auf die Entstehungsgeschichte. Biczók interessiert sich für den Ausdruck und die Wirkung von Sprache. Die gesprochene Sprache ist nicht die einzige, mit der sich der Mensch ausdrückt, die Körpersprache und die Mimik haben ebenso ihren Platz in der direkten Kommunikation. Tänzerinnen und Tänzer benützen auf der Bühne ihre Körpersprache, oft ergänzt durch das Vokabular der Choreograf:innen.Drei Tänzerinnen unterschiedlicher Herkunft tanzen gemeinsam, was ihr Körper gespeichert hat. (Portyannikova, Juhász, Pauer)Anna Biczók selbst ist Ungarin mit russischen Wurzeln, auch Adél Juhász ist Ungarin; Sasha Portyannikova ist in der Sowjetunion geboren und lebt zurzeit in Innsbruck. Karin Pauer ist Österreicherin. Biczók hat drei Frauen ausgewählt, weil Frauen, trotz aller kulturellen und privaten Unterschiede, zumindest ihr Frausein gemeinsam haben. Auch reagieren ihre Körper anders als die der Männer. Frauen sind es gewohnt, Gefühle auszudrücken und sichtbar zu machen, den meisten Männern fällt das Zeigen von Gefühlen schwer, es gilt gemeinhin noch in vielen Kreisen als unmännlich.
Adél Juhász: wütend, mutig, energiegeladen. Zur Einleitung wird doch gesprochen, damit das Publikum erfährt, wie die 50 getanzten Minuten entstanden sind. Die drei Frauen plaudern miteinander, oft in ihrer Muttersprache, über ihren Alltag und wie es ihnen so geht. Ein in Gesprächston gehaltenes Palaver. Dann beginnt die Musikerin Rozi Mákó mit ihrer Arbeit an den elektronischen Geräten, und das Gesums an der hinteren Bühnenwand verstummt, die weiß ausgelegte, langgestreckte Bühne wird erobert.Sasha Portyannikova: gelenkig wie die russische Puppe Petruschka. Igor Strawinsky hat dem unsterblichen Petruschka eine Ballettmusik gewidmet. Adél Juhász ist die Mutigste und fängt an, die beiden anderen, Sasha Portyannikova und Karin Pauer, gesellen sich dazu. Alltägliches wird getanzt und Besonderes, Komisches und Traumatisches – und, vor allem, Gemeinsames und Unterschiedliches. Die drei zeigen auch deutlich, dass sie nicht von einer Regisseurin / Choreografin über einen Kamm geschoren wurden. Jede ist ganz sie selbst, Juhász wild, ja wütend und unerschrocken, Portyannikova versucht sich als Petruschka, nimmt auch das Schreckliche nicht gar zu ernst und Karin Pauer ist für mich die Schöne, die das Gute im Biest erkennt. Wenn sich die drei auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen, dann tanzen sie im Trio in der subtilen Lichtregie von Kata Dézsi. Karin Pauer: geschmeidig, schön, ausdrucksstark.
Dass sie auch tanzen, was sie von ihren Ahninnen ererbt, was in Fleisch und Blut, Haut und Knochen übergegangen ist, kann man im Programm-Faltblatt lesen. Dazu gibt es wissenschaftliche Untersuchungen und auch schon einige Tanzstücke, etwa Ancestors von Ulduz Ahmadzadeh. Was man sieht, ist energiegeladener, abwechslungsreicher, famoser Tanz von drei exzellenten Tänzerinnen in einer perfekten Choreografie. Anna Biczók, die ursprünglich selbst mittanzen wollte, dann aber an der Doppelrolle keinen Gefallen fand und sich auf die Choreografie konzentrierte, weiß, den ungewöhnlichen Bühnenraum, mehr lang als tief, zu nützen, zeigt vertikale und horizontale Linien und immer wieder auch ein Dreieck. Die geprobten Bewegungen der Tänzerinnen, das Drehen um die eigene Achse, die weiche Hebung der Arme, die wütend stampfenden, gegrätschten Beine, wirken nur scheinbar wie improvisiert, der Stimmung entspringend. Anna Biczók, Choreografin und künstlerische Leiterin von „Delicate“. @ Hevzso FotografieIm Finale ziehen sie sich alle drei wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen sind, an die hintere Bühnenwand. Doch nun haben sie alles erzählt, alle Knoten sind gelöst, vielleicht sogar manche Schmerzen geheilt. Jetzt können sie in Front mit a Publikum,  entspannt und synchron auf den Füßen wippen. Drei Frauen von unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlicher Muttersprache haben die Grenzen, die sie trennen, niedergetanzt, und das, was sie vereint, gefunden.
PS: Genau besehen sind es fünf Frauen, die Musikerin agiert im Austausch mit den Tanzenden live auf der Bühne und die Choreografin ist zumindest in Gedanken dabei.

Anna Biczók: Delicate, ImPulsTanz im Kasino am Schwarzenbergplatz, 21. und 23. Juli 2023.
Künstlerische Leitung: Anna Biczók. Performance, Choreografie: Adél Juhász, Karin Pauer, Sasha Portyannikova. Musik: Rozi Mákó. Licht: Kata Dézsi. Kostüme: Csenge Vass. Choreografische Assistenz: Virág Arany.
Fotos: @ Daniel Doemoelky, Molnár Zoilly