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Anne Teresa De Keersmaeker: Kein Staub auf Opus 1

Zwei Tänzerinnen, viele Schatten und die Verschiebung der Phasen.

Erst 21 Jahre ist die Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker, als sie 1982 ihr Meisterstück auf der Bühne des hundertjährigen Börsentheaters Beursschouwburg in Brüssel zum ersten Mal zeigt. In Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich tanzt sie ein Solo und gemeinsam mit Michèle Anne De Mey drei Duette. 36 Jahre hat sie ihr Opus 1 weiter getanzt, dann hat sie die fünf Bewegungen an die nächste Generation weitergegeben. Im Rahmen von ImPulsTanz tanzen im Volkstheater Laura Bachman und Soa Ratsifandrihana.

Soa Ratsifandrihana und Laura Bachman im Piano Phase von Steve Reich.Schwingende Arme, ein Drehen um die eigene Achse, Kreiseln, Schrauben, Springen und schließlich Gehen – die wesentlichen Elemente von De Keersmaekers Choreografien sind damit festgelegt, können in ihrem Œuvre immer wieder genossen werden. Schon damals scheint De Keersmaekers gern zitiertes Bonmot, „Das Gehen ist mein Tanzen“, entstanden zu sein.
Auch wie sie mit der Musik umgeht, steht seit Fase fest: Es geht weniger um Melodie und Rhythmus, sondern um die Struktur einer Komposition, ob sie von Steve Reich ist oder von Johann Sebastian Bach. Im aktuellen Fall ist auch im Tanz das der Minimal Music eigene Prinzip der Phasenverschiebung deutlich zu erkennen. Zu Beginn sind die beiden Tänzerinnen in den drei Duett-Sätzen völlig synchron, allmählich jedoch sind kleine Ungereimtheiten erkennbar. Piano Phase mit tanzenden Schatten. Die Phasenverschiebung, wenn sich die Lichtquellen ändern, müssen auch sie erdulden.Die Wiederholungen heben jegliches Zeitgefühl auf, versetzen die Zuschauerin in eine angenehme Trance, die durch die immer deutlicher werdenden Variationen aufgehoben wird.
Keersmaeker legt ihre Choreografien in einer streng geometrischen Ordnung an, Linie, Diagonale und Kreis sind die Elemente ihrer Choreografien. Mit dem differenziert eingesetzten Licht, dem in jeder Phase anders genutzten leeren Raum, der Musik und den Bewegungen, die die Choreografin bewusst von zwei Frauen tanzen lässt, entsteht aus den vier Musikstücken – Piano Phase, Come Out, Violin Phase und Clapping Music – eine feinst konzipierte Vorstellung, nicht die Aneinanderreihung von vier Choreografien, sondern ein einheitliches Ganzes, dessen Teile einander bedingen. Come Out: Die Wörter und Silben verschwimmen zum Text, parallel verschieben sich die synchronen Bewegungen.Wie jung geblieben dieses oft als Signaturwerk De Keersmaekers bezeichnete choreografische Debüt ist, zeigt sich vor allem im Solo Violin Phase. Als übermütiges Füllen hüpft Soa Ratsifandrihana im Kreis, lüpft ihr Kleidchen und zeigt, dass sie das Tanzen glücklich macht. Wie jung war De Keersmaeker als sie dieses Solo konstruiert hatI Die Choreografin ist älter geworden, doch ihr Werk keineswegs, dieses Archiv, in dem auch Rosas danst Rosas, Drumming oder Rain liegen, ist nicht ephemer, nicht staubig und tot, es ist lebendig wie der Tanz, der von einem Körper dem nächsten übergeben wird.
Reichs Methode ist am deutlichsten in Come Out hör- und sichtbar. Die beiden Tänzerinnen sitzen unter orangefarbenem Licht auf Hockern nebeneinander, ihre Bewegungen sind scheinbar eingeschränkt, doch wirklich beschränkt ist nur der Raum, der nicht genutzt wird, getanzt wird eben auf einem Punkt, auf dem man sich auch drehen kann. Solo für Soa Ratsifandrihana: Violin Phase.Reichs Komposition beginnt mit Text, der Aussage eines 19-jährigen aus Harlem, der im Zuge von Unruhen verhaftet und erzählt, dass er im Gefängnis geschlagen worden ist: „I had to, like, open the bruise up, and let some of the bruise blood come out to show them“ („Ich musste den Bluterguss aufschneiden und etwas von dem Blut herauslaufen lassen, um es ihnen zu zeigen“). Diese Phrase wiederholt Reich, spielt sie als Echo zurück und bald ist ein vielstimmiger Kanon zu hören, bis das Gesagte immer unverständlicher wird, Rhythmus und Klang des gesprochenen Satzes verschwimmen zur Musik. Ebendieses passiert auch auf den zwei Hockern, die anfangs streng abgezirkelten nahezu militärischen Bewegungen (statt des hellen einfachen Mädchen-Kleides tragen die Tänzerinnen jetzt dunkle lange Hosen und Westen) werden immer mehr zum gemeinsamen fließenden Tanz. In Piano Phase lässt De Keersmaeker auch die Schatten der Tänzerinnen, mehrfach und gedoppelt, scharf und dunkel oder als helle Silhouette, erzeugt von unterschiedlichen Lichtquellen, mittanzen. Effektvoll und verwirrend.Zum Finale: Clapping Music. Im Lichtviereck treten die Tänzerinnen im Takt auf der Stelle, bis sie mit dem Licht über die Bühne wandern.
Dass Clapping Music der letzte Satz der Sinfonie ist, folgt der Logik des Finales. Der Sound wird von zwei Paar klatschenden Händen erzeugt, den Tänzerinnen steht anfangs nur ein kleines Lichtrechteck rechts hinten zur Verfügung, um im Takt vor und zurückzutreten. Später wandert der Lichtkegel in die gegenüberliegende Ecke, diagonal durchmessen Bachman und Ratsifandrihana den Raum, um den Abend links vorne zu beenden und den verdienten Applaus entgegenzunehmen. Nicht nur die beiden Tänzerinnen, auch das gesamte Publikum und auch die jungen Frauen des Publikumsdienstes haben ein Lächeln im Gesicht. Anne Teresa De Keersmaeker in ihrer Choreografie Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich. Nicht grundlos gehört Fase gemeinsam mit Rosas danst Rosas zu den am häufigsten aufgeführten Choreografien. Beide Tanzstücke (Rosas danst Rosas ist nur ein Jahr nach Fase entstanden) sind in aller Welt bekannt und vom Publikum geliebt. Diese Einheit der four Movements to the Music of Steve Reich machen nicht nur ihrer frischen Jugendlichkeit wegen glücklich, bringen Tänzerinnen und Publikum zum Strahlen.
Marginalie: Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Genau genommen ist Fase nicht die erste Choreografie De Keersmaekers. 1980, gerade 20 Jahre alt geworden, hat sie Asch, ein Duett mit Jean Luc Breuer, in Brüssel präsentiert.

Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas: Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich 17., 18., 19. Juli 2023, ImPulsTanz im Volkstheater.
Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker; Tanz: Laura Bachman, Soa Ratsifandrihana.
Entwicklung: Michèle De Mey, Anne Teresa De Keersmaeker;
Musik: Piano Phase, 1967; Come Out, 1966; Violin Phase, 1967; Clapping Music, 1972.
Licht: Remon Fromont; Kostüm 1981: Martine André, Anna Theresa De Keersmaeker.
Fotos: Anne Van Aerschot.