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Die Poesie der Gesten und Schritte

Elizabeth Ward, Yari Stilo, Mani Obeya, Bühnenbild: Alma Feldhandler

Exposition, Durchführung, Reprise, Coda. Eine Triosonate lässt sich tanzen, auch wenn die Musik nur im Kopf der drei Tanzenden ist. Das Publikum sieht die Musik. Der Choreograf und Tänzer Samuel Feldhandler hat sein Ballett, „Georgey tremble“, als Sonate entwickelt. Mani Obeya, Yari Stilo und Elizabeth Ward tanzen die drei Sätze. Eine gute Stunde lang sind sie nahezu permanent auf der Bühne im Tanzquartier. Gehen, drehen, springen, variieren, imitieren, addieren, repetieren – ein unaufhörlicher Fluss an Begegnungen und Trennungen. Die Anstrengung wird von der Poesie der Gesten und Schritte überdeckt.

Mani Obeya, Elizabeth Ward: Gesten und Bewegungen als Zitat.Zur Entstehung der Choreografie gibt es eine Geschichte, eine Geschichte aus der Kindheit des 1993 geborenen Choreografen. „Georges tremble“, der Titel der Choreografie, bedeutet „Georg zittert“. Feldhandler erinnert sich an das Erzittern seines Großvaters, Georges, als der in der Pariser Shoah-Gedenkstätte unverhofft den Namen seines Vaters gelesen hat. Die Emotionen, die in Georges hochkamen, resultierten in einem kurzen Moment des Erzitterns. Die körperliche Reaktion auf den Affektsturm hat Feldhandler zu seinem jüngsten Stück inspiriert.
Feldhandler setzt Musik in Bewegung um und erinnert mich damit an DD Dorvillier, die vier Tänzer:innen ein Streichquartett von Ludwig van Beethoven tanzen ließ, ohne dass die Musik zu hören war. Die Musik ist im Körper gespeichert, das Publikum sieht sie, hört sie jedoch nur sporadisch.Feldhandlers Choreografie hält sich an die Sonatenform, doch werden nicht Noten interpretiert, sondern Erinnerungen in Bewegung umgesetzt. Diese sind für ihn, der aus einer musikalischen Familie stammt, vielfältig: Gesten von Musikern, Schritte von Tänzern, Phrasen von Choreografen, Bewegungen einer Jazz-Sängerin, Feldhandler arbeitet mit Zitaten aus der Körpersprache bekannter Künstler:innen. Man muss diese Zitate, die von Obeya, Stilo und Ward gezeigt, zusammengefügt, auseinandergenommen und wiederholt werden, nicht zuordnen können. Es sind die Erinnerungen Samuel Feldhandlers, das Publikum darf seine eigenen Erinnerungen wachrufen, sich am Tanz, dem reinen Tanz, der expressiven und poetischen Sprache der Körper erfreuen.
Samuels Schwester Alma, eine bildende Künstlerin ist für das Bühnenbild verantwortlich. Zwei große Aquarelle in zarten Blautönen im Hintergrund lenken immer wieder den Blick auf sich. Mit sanften Berührungen werden die Zitate weitergegeben. Links ist eine eher kahle Landschaft zu sehen, doch rechts entwickelt sich eine Geschichte, ein Paar verlässt den Raum. Geschwister? Ein Liebes- oder Ehepaar? Befreundet oder verfeindet? Davor erinnern sich Tänzer und Tänzerin an die Gesten anderer, geben sie untereinander weiter, führen sie synchron aus und bleiben doch ganz für sich. Erst gegen Ende, wenn die sporadischen Geräusche zu einer Art von Musik werden, berühren die Drei einander, führen manche Gesten, die den eigenen Körper betreffen (etwa, die Haare aus dem Gesicht streichen) am Gegenüber aus. Tröstliche, zärtliche Gesten, die neue Gefühle hervorrufen. Choreograf Samuel Feldhandler setzt Erinnerungen in poetischen Tanz um. Feldhandler ist Choreograf einer neuen Generation, die die ichbezogene, selbstverliebte, manipulative Performance ablöst. Der Tanzkörper ist für ihn „ein komplexes Ensemble von physio-psychologischen Systemen“. Um die Ästhetik dieses „Systems“ darzustellen, braucht es keine Handlung und keine Botschaft. Die Ästhetik der Bewegungen, die feine Sprache der perfekten und energetischen Tanzkörper genügen. Dabei ein Stunde stillzusitzen, fällt schwer. Die Spiegelneuronen und die Intensität der Aufführung verlangen nach physischer Umsetzung.
Für das Publikum bleibt nur das Bewegen der Hände und Arme, der Applaus.

Samuel Feldhandler: „Georges tremble“, Tanzquartier, 10. und 11. Februar 2023
Künstlerische Leitung & Choreografie: Samuel Feldhandler. Performance: Elizabeth Ward, Mani Obeya & Yari Stilo. Kostüme und Bühnenbild: Alma Feldhandler. Lichtdesign: Emese Csornai. Begleitung des künstlerischen Projekts: Lise Lendais. Fotos: Elsa Okazaki.