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Spitzwegerich: Uraufführung mit Hirn und Darm

Darm an Gehirn: "Einfrieren – Hochladen – Weiterleben".

Geistig anspruchsvoll und dennoch überaus unterhaltsam präsentiert das Kollektiv Spitzwegerich samt Puppen, Objekten und Innereien ihr neuestes Wissenstheater. „Einfrieren – Hochladen – Weiterleben“ beobachtet und untersucht die Utopie vieler Menschen, ewig zu leben. Die Uraufführung im Schubert Theater, Puppentheater für Erwachsene, am 25. September war ein voller Erfolg. Während der Aufführung gab es allerhand zu lachen, danach zu diskutieren.

Simon Ditersdorfer als Rapper mit Sehnsucht nach dem Yoghurt-Elixier.So durch und durch phantastisch sind manche Ideen gar nicht. Mehr als 200 Menschen warten, in flüssigem Stickstoff eingeschlossen, auf ihre Auferstehung. Es sind Kryonauten, die sich einfrieren (Kryokonservierung, auch Kryostase, kryos ist das griechische Wort für Eis) lassen. Die Kryostase ist die eine Basis des Stückes, die zweite ist eine 110 Jahre alte Zeitungsmeldung. Der Nobelpreisträger Elie Metchnikoff hat in bulgarischer Joghurt das Elixier für Langlebigkeit gefunden. Also mixt ein Wesen aus der japanischen und chinesischen Mythologie, der Mondhase, diese Wunderdroge mit dem Bazillus Bulgaricus und die Menschen gieren danach. Das Gehirn wird konserviert, der Mann hat keinen Kopf mehr, der schwebt frei über ihm.Um bei der Wahrheit zu bleiben, auf der Bühne ist es ein Mensch (Simon Dietersdorfer), den wir zuerst für einen Briefträger gehalten haben, der giert. Um sich im Kältezylinder konservieren zu lassen, wenn schon nicht gänzlich, so doch wenigstens das Gehirn, da sitzt ja ohnehin das ganze Ich drinnen, und in der Zukunft wieder zu erwachen (selbst wenn es noch nicht wirklich sicher ist, ob es gelingen wird, schadlos wieder ins Leben zurückzukehren), tut er alles, rezitiert und singt, rappt und tanzt und lässt sich auch den Darm entnehmen.

Dieser hat Ambitionen, denn er will auch etwas zu sagen haben, will nicht nur Verdauen und im Anus enden, will beide Öffnungen zugleich sein oder wenigstens mit dem Gehirn tauschen: Ohne den Mondhasen wird's nix mit dem Ewigleben. Der Darm oben, das Hirn unten. Als Metapher ist diese Einteilung bereits gut zu gebrauchen.

Die Spitzwegeriche haben sich intensiv mit Wissenschaftler*innen und Poeten befasst, gelesen, interviewt und recherchiert. Doch sie halten keine Vorlesung, wollen eher unterhalten als belehren und verzapfen dennoch allerlei Klugheiten, zitieren Prosa und singen Poesie und lassen die freigelegten Gehirne in ihrer Lake im Takt tanzen. Sie nehmen ihr Publikum sehr ernst, nicht aber sich selbst und die gewählte Thematik, deshalb reimt sich auch „Hirnkrank“ auf „Steampunk“ und „Aneurysma“ auf „Krishna“, den kann man in allen Sprachen googeln. Den Rapp „Junges Blut“ hat Simon Dietersdorfer geschaffen, damit er ihn tanzend singen kann. Ein Star ist geboren, kurz bevor er zum Kyronauten wird. Was bleibt vom Menschen ohne das Gehirn?

Schmetterlinge, die wissen (oder auch nicht), dass sie einmal eine Raupe waren, flattern auf, Chromosomen paaren sich und ihre Forstsätze, die Telomere, spielen stumm die Ziehharmonika, während am anderen Ende der Darm mit Hakennase (böse, böse) seine Ziele durchsetzen will.

Wie es dem Briefträger, der gar keiner ist, sondern Rapper, weiterhin ergeht, erfahren wir nicht, denn er lädt sich in die Cloud hoch, wird von der Wolke begraben und verschlungen. Bevor der heftige Applaus einsetzt, wartet das Publikum geduldig, ob es noch mehr über das Erfrieren und Cyborgisieren erfährt, und auch über den Punkt, der, vom +Nullpunkt zum -Nullpunkt wird, kehrt man nach einer langen (Lebens-) Reise wieder an den Anfang zurück. Da hilft nur ein Gehirnupgrade, sonst bleibt nur der Schlussapplaus.

Spitzwegerich: „Einfrieren – Hochladen – Weiterleben“. Idee, Konzept, Fassung: Spitzwegerich. Spiel, Puppenbau, Bühne, Kostüm: Birgit Kellner, Christian Schlechter; Musik, Spiel: Manfred Engelmayr; Schauspiel: Simon Dietersdorfer; End-Regie, Dramaturgie: Alex. Riener. Choreografie: Martina Rösler, Emmy Steiner. Licht: Ines Wessely, Kostüm: Brigitte Moscon. Mitarbeit Ausstattung: Isabella Pröll. Rat & Tat: Christoph Bochdansky.
Uraufführung am 25. September 2019, Schubert Theater.
Mit Textfragmenten von Jewgenij Samjatin, Eckhardt Lindner, William S. Burroughs, Ray Kurzweil, Max More, Simon Dietersdorfer und Manfred Engelmayr.
Zwei weitere Vorstellungen: 26. und 27. September 2019.
Außerdem: 31.1., 1.2. 2020 und 8.4., 9.4. 2020, Schubert Theater.
Die erste Produktion von Spitzwegerich, „Welcome to the Insects“, wird am 28.und 29.1. 2020 im Schubert Theater wiederholt.