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Spitzwegerich: „Einfrieren, …, Weiterleben“

Die Köpfe sind leer, die Gehirne sind selbständig geworden.

Nach dem ebenso skurrilen wie wissenschaftlich fundierten Erstlingswerk: „Welcome to the Insects“ (2018) befasst sich das Kollektiv „Spitzwegerich“ in diesem Herbst mit dem Menschen und seinem Gehirn. Im Prinzip geht es um die die alte Sehnsucht der Menschheit: das ewige Leben. Mit Puppen, künstlichen Einzellern, Musik und Gesang ahnen die Spitzwegeriche eine Zukunft voraus, von der wir vermutlich nicht ahnen, wie nahe sie womöglich ist. „Einfrieren, Hochladen, Weiterleben“ ist ein sonderbares, schräges Stück, das trotz der Objekte, komischen Tierchen und eines sprechenden Gehirns nichts für Kinder ist. Die Premiere findet am 25.9. im zum Figurentheater gewandelten ehemaligen Schubert Kino statt.

In der Vorarbeit haben sich die Spitzwegeriche mit der Philosophie des Transhumanismus befasst und sind dabei im virtuellen Raum auch dem britischen Philosophen Max More begegnet, der einen faszinierenden und auch bedenklichen Vorschlag macht:

Natürlich können wir auch viel erreichen, wenn wir menschlich bleiben. Aber wir können höhere Gipfel erklimmen, wenn wir unsere Intelligenz, unsere Entschlossenheit und unseren Optimismus dafür einsetzen, die menschliche Puppe zu durchstoßen.“`

Kryokonservierung des Gehirns, damit es später wieder geweckt werden kann. Die Cloud liefert die Datennahrung. Das wär‘ doch was! Hier auf der Erde weiter existieren und doch in einem Paradies sein, ohne Krankheit, Schmerz und Tod. Der Leib, diese unnütze menschliche Puppe, wird eingefroren, das Hirn lebt weiter wie der Plattwurm, dem es gelingt, auch zerteilt zu wachsen und sich zu vermehren, und nährt sich immer von neuem aus der Daten-Wolke (Cloud). 

Noch ist es nicht so weit, doch schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hat der russische Schriftsteller Jevgenij Samjatin († 1937) in seinem dystopischen Roman „Wir“ (veröffentlicht 1920, auf Deutsch neu aufgelegt bei Ganymed Edition, 2017) davon geträumt, seinem Körper zu entfliehen:

Ich hatte mich aufgelöst, ich war unendlich klein, ein Punkt... Aber in dieser Vorstellung lag ja eine gewisse Logik des heutigen Tages, denn der Punkt ist eine völlig unbekannte Größe — er braucht sich nur zu regen, sich fortzubewegen — und er kann sich in tausend verschiedene Kurven, in Hunderte von Körpern verwandeln.

Ein Albtraum, wie der Gedanke an das ewige Leben. Albtraum mit einem neugierigen Wurm.

Ohne Furcht vor solchen beängstigenden Träumen begeben sich Spitwegerich in ein Heute, in dem an scheinbar unsterblichen Tieren geforscht wird, um deren genetische Verwandtschaft zu entschlüsseln und Eigenschaften auf uns zu übertragen. Unsre Sehnsucht gilt ebenso dem Plattwurm, der zerstückelt immer wieder nachwächst und sich vervielfältigt, wie dem Wimperntierchen mit seinen 7 Geschlechtern und seiner Unsterblichkeit. Sind dies Körper, in die es sich – anstelle unsrer auftaubereiten menschlichen Hülle – zurückzukehren lohnt? Oder ist es doch der stillgelegte, eigene Körper? Wir setzen unsere Hoffnung in Telomere, künstlich gezüchtete Organe, Auftauexperimente." Und auch in das Wimpentierchen und den Plattwurm.

JDas erschreckt den Kop, wenn ihm das Gehirn abhanden kommt.etzt vergesse ich die vielen Fremdwörter und unbekannten Begriffe wieder, denn die Vorstellung von Spitzwegerich ist gar nicht so theoretisch, wie der Vorausbericht klingt, sie ist sinnlich, komisch, intelligent und nur ein ganz klein bisschen gruselig. Eine feine Einführung gibt die Musikerin und Dramaturgin des Schubert-Theaters, Jana Schulz, mit ihrem Bericht aus der Werkstatt. Sie hat die körperlosen, sprechenden Gehirne bereits beäugt und betastet. Und weiß auch, was Kryonik bedeutet. Im Titel des neuen Stückes steht es schon: das Einfrieren von Organen, vor allem des menschlichen Gehirns. In den USA gibt es schon Gesellschaften, die das Kryokonservieren anbieten.
Und einer hat auch davon bereits Gebrauch gemacht. Schon 1967 hat der amerikanische Psychologieprofessor James Bedford seinen Körper in flüssigem Stickstoff kühlen lassen. Aufbewahrt wird er von der Kryonik-Gesellschaft Alcor.

Sptzwegerich. Die Verknüpfung außergewöhnlichen Figuren- und Objekttheaters mit einem bildnerischen Zugang über Grafik, Bühnenbild und Live-Projektion ist das wesentliche Merkmal der Arbeit von Spitzwegerich.Die Operation wird vorbereitet. Ein wichtiges Element der fertigen Aufführung ist auch die Musik, die gleichberechtigt mit dem Spiel, den selbst gebauten und modellierten Objekten und den erzeugten Bildern (auf der Bühne oder in den Köpfen des erschauernden Publikums) konform geht. 

Der Einladung der Insekten zu ihrem „Welcome“ Folge geleistet habend, wage ich zu sagen: „Einfrieren, Hochladen, Weiterleben“ wird ganz anders sein, als man sich vorstellt, weil nämlich das Kollektiv Spitzwegerich ganz anders ist als herkömmliches Theater, das kaum Objekte, noch weniger Puppen und gar keine singenden Gehirne auf die Bühne bringt.

Spitzwegerich: „Einfrieren, Hochladen, Weiterleben“, Uraufführung am 25. September 2019, Schubert-Theater.
Spie, Puppenbau, Kostüme: Birgit Kellner, Christian Schlechter; Musik, Gesang, Spiel: Manfred Engelmayr; Schauspiel, Gesang: Simon Dietersdorfer; Choreografie: Martina Rösler, Emmy Steiner: Beratung: Christoph Bochdansky.
Weitere Vorstellungen: 26., 27.9. 2019. Tickets: schuberttheater.at/
Fotos:  © Daniel Sostaric