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Patrick Modiano: „Schlafende Erinnerungen“

Literaturnobelpreis-Träger Patrick Modiano. © afp.com / Patrick Kovarik

Patrick Modiano macht süchtig, auch wenn er seit Jahren immer wieder der Kunst des Erinnerns huldigt. Er sucht diese Erinnerungen in den Straßen und Cafés von Paris, die so konkret sind, dass man meint, schon selbst dort spaziert zu sein. Wie Träume erscheinen diese schlafenden Erinnerungen an die 1960er Jahre, als er als Student, der nicht studierte, durch die Bezirke schlenderte und seine Eindrücke und die Namen von zufälligen Begegnungen in ein kleines Heft notierte. Er muss diese Erinnerungen immer wieder wecken, auch um den Modiano-infizierten Leserinnen davon zu berichten.

In der Morgendämmerung sucht sich Modiano ein stilles Café (im Bild Le Grand Palais). © parisrunningtour.com/Es sind vor allem Frauen, an die sich der Erzähler erinnert, doch Mireille Oursousov, Madeleine Péraud oder Martine Hayward und die Namenlose, die er bei ihr kennen gelernt hat, bleiben Schatten, flüchtige Begegnungen, an die er sich plötzlich erinnert. Dann sucht er die Gassen auf, in denen sie gewohnt haben und prüft, ob seine Erinnerungen stimmen. Einzig Geneviève Dalame, von der er immer dachte, sie gehe abseits ihres Lebens, begleitet ihn mehrere Seiten, ist mehr als eine flüchtige Begegnung. In einer Buchhandlung hat er sie zum ersten Mal gesehen und später immer wieder im selben Café getroffen, ist mit ihr durch das nächtliche Paris spaziert, hat ihr Bücher über okkulte Wissenschaften empfohlen, die ihn damals gefesselt haben. Er lernt auch ihren zwielichtigen Bruder kennen, der sich an seine Fersen heftet. Geneviève begegnet er auch nach sechs Jahren wieder mit einem kleinen Buben an der Hand. Wiedersehensfreude ist nicht spürbar. Auch der Bruder taucht wieder auf und verschwindet, ebenso wie die anderen Frauen, die ihm einfallen.

Die Erinnerungen bleiben schemenhaft, niemals wird klar, was sich der der Jugend nachtrauernde Mann ausdenkt, was er wirklich erlebt hat. Es sind Impressionen, an die er sich erinnert, an Kaffeehäuser, die fast die ganze Nacht offen haben, an schlecht beleuchtete Straßen und Metro-Stationen. Vielleicht gab es ein Verbrechen, in das die, die er nicht beim Namen nennen will, damit sie auch 50 Jahre danach nicht identifiziert werden kann, verwickelt war. Er übernachtet mit ihr unter falschem Namen in kleinen Hotels und entsorgt die Pistole. Sie sagt, es sei ein Unfall gewesen. "ich erinnere mich an alles", Cover der DVD. © Gallimard.fr

Wie Signale tauchen Personen und Szenen aus dem Dunkel der Vergangenheit auf, doch fügen sie sich niemals zu einem Bild. Doch über allem schwebt etwas Geheimnisvolles, Paris war ein unsicherer Ort, Schwarzmarkthändler, Spione und die Mitglieder der OAS, der geheimen Armee, Untergrundbewegung während des Algerienkrieges, geisterten durch die Stadt. Der junge Mann hatte den Verdacht, dass sein Vater russische Kontakte hatte, sah auch in mancher Begegnung einen gefährlichen Mann.

Er behauptet, dass er Ordnung in seine Erinnerungen bringen will und muss gleichzeitig gestehen, dass er damals ein stets Flüchtender war, einer, der immer davon rennt, aus der Schule, aus Paris, da er sich zum Militärdienst melden soll, aus Verabredungen, die er nicht einhalten will. „Heute habe ich Gewissensbisse und möchte verstehen, warum das Weglaufen meine Lebensform war.“ An engen Beziehungen scheint ihm nicht gelegen zu sein, keine Überraschung, dass die Erinnerungen so ephemer sind. Doch mit etwas 22 hat das Wegrennen endlich aufgehört, er beschließt, es als Kinderkrankheit, wie Mumps oder Schafblattern, einzuordnen.

In den Bois de Boulogne hat ihn der Vater mitgenommen, wenn er mit einem Freund dort spazieren ging. © Alexandre.L./yelp.comModiano lesen, heißt nicht nur sich selbst zu erinnern, sondern auch immer wieder déjà-vu- Erlebnisse zu haben. Er gibt immer wieder Stücke seiner realen Biografie preis und auch die Orte, nicht alle seine Bücher erzählen von Paris, und die Frauen, an die er sich erinnert, scheine ich bereits zu kennen. Das besänftigt irgendwie, gibt den Büchern auch Authentizität, die Wiederholung des immer Gleichen, beruhigt, ist es doch im realen Leben außerhalb der Literatur ebenso.

2014 hat Patrick Modiano mit 69 Jahrenden den Nobelpreis erhalten, auch wenn dieser Preis, wie viele andere, nichts über die Qualität und Wirksamkeit eines Autors aussagt, und die Verleihung ziemlich spät über ihn gekommen ist, darf sich auch die Lesegemeinde darüber freuen, Buchcover: "Schlafende Erinnerungen" nach einem Foto von Fred Wander. © Hanser Verlagdenn diese weltweit publizierte Ehrung hat sie sicher erweitert und wieder einige Leser mit dem Modiano-Virus infiziert. In Frankreich 2017 erschienen, bietet dieses erste Erinnerungsbuch des Nobelpreisträgers einen wunderbaren Einstieg. Wie alle 40 Romane Modianos, entwickelt auch dieser von der ersten Seite an einen Sog, der die Lesenden einhüllt, denn er gehört jetzt ihnen und „er wird sich ihnen mittels eines chemischen Prozesses direkt offenbaren.“ (Modiano im Vorwort zu dem Band „Romans“ mit zehn Werken des Autors, erschienen 2013 bei Gallimard.
Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet seine treue Übersetzerin Elisabeth Edl, die längst Modianos fließendes Französisch auf Deutsch spricht. Und noch eine Bemerkung: In Österreich war eine schlaue Jury schneller als das längst nicht mehr hochgelobte Nobelpreis-Kommitee, schon 2012 wurde Patrick Modiano mit dem österreichischen Staatspreis für europäische Literatur geehrt. Mindestens eine(r) in der damals amtierenden Jury muss vom virus modianique befallen sein. Bravo!

Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen ­Souvenirs dormants, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl, Hanser 2018. 112 S. € 16,40.