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Susanne Falk: „Anatol studiert das Leben“ Roman

Susanne Falk. © Paul Feuersänger

Auch wenn die Geschichte von Anatols Abenteuer im Winter spielt, eignet sie sich bestens als federleichte Sommerlektüre. Anatol ist nicht nur das Zentrum des Romans von Susanne Falk, auch die gesamte Wiener Familie kreist um ihn. Der kleine Bruder von drei Schwestern ist ein wenig sonderbar, ein Außenseiter, nahezu autistisch. Doch er schlägt sich tapfer durchs Leben und bis nach Frankreich, weil ihn die Liebe überfallen hat. Ein amüsanter, schwungvoller Roman.

Anatol, das sagt schon der an Arthur Schnitzler erinnernde Vorname, lebt zwar heute, doch die Familie steht unter dem Kommando der Großmutter, einer ehemaligen Schauspielerin an der Burg. Er hat keine Freunde, versucht zwar schon im Teenageralter den Kontakt zu Mädchen zu finden, doch so richtig klappt das nicht.  Im Burgtheater feierte die Großmutter Triumpfe. Weitwinkel. © Thomas Ledl / wikipedia, free licenceWeil es ihm besser gefällt, die Menschen vom Rand aus zu beobachten, nimmt er nach der Matura und einigen ziellosen Jahren im Schoß der Familie – das von der Großmutter vorgeschlagene Jus-Studium lehnt er ab – eine Stelle als Aufpasser im Wiener Kunstforum an. Tag für Tag kann er hier seiner Leidenschaften, dem Beobachten und Studieren der Besucher*innen frönen. Gemeinsam mit ihm arbeitet ein etwas ungehobelter aber gutherziger Steirer, der lieber den jungen Männern aufs Hinterteil schaut als den  Besucherinnen auf den Busen. Anatol wartet auf die Liebe, und die kommt unverhofft. Anatol sieht in der Chagall-Ausstellung eine junge Frau mit Sonnenstrahlen im Haar und wird von Amors Pfeil mitten ins Herz getroffen. Eine Chance für den Kunstdieb: Die Chagall-Ausstellung reist von Wien nach Basel. © JulianSalinas / srf.ch/kultur/kunst

Wie er sich dem Objekt seiner plötzlich erwachten Begierde nähern soll, muss ihm sein Kollege und einziger Freund, Gerhard aus der Steiermark, erst sagen. Schließlich erfährt er ihren Wohnort, Amiens, und auch ihre Faszination für ein Bild von Marc Chagall: „Der Traum der Liebenden“. Marcelline, so heißt die Studentin aus Frankreich, studiert das Bild, weil sie genau darüber eine Masterarbeit schreiben will. Anatol, der die Menschen beobachten kann, aber kaum die Bilder, sieht nur Blau und Gold. Blau das berühmte chagallsche Bild, Gold das Haar von Marcelline. Am letzten Tag der Ausstellung steht sie noch einmal versunken vor dem Bild und verschwindet. Die Bilder werden abgehängt, verpackt und sollen zur nächsten Schau in die Schweiz transportiert werden. Da reitet Anatol der Liebesgott und er wird zum ersten Mal in seinem Leben aktiv, packt das verhüllte nicht sehr große Bild und verlässt die Ausstellungshalle.

Im Grandhotel von Luzern kommt es fast zu einem Zusammenstoß der Familie mit Anatol. © grandhotel-national.comNun beginnt eine Reise quer durch Österreich, in die Schweiz und schließlich nach Frankreich, die Familie im Auto der Großmutter, samt dieser persönlich, reist hinter her. Gerhard ist auch dabei, denn er hat eine Ahnung, wo Anatol samt dem gestohlenen Chagall hinwill. Natürlich mischt sich auch die Polizei ein, Anatol hat immerhin einen Kunstskandal entfacht. Am auffälligsten mischt sich der Profiler Doktor Pokorny ein, doch bald stellt sich heraus, der Kriminalist ist weniger hinter Anatol her als hinter Gerhard. Am Ende sind beide ein glückliches Paar.
Anatol, naiv und gutgläubig, reist mitsamt seinem geraubten Schatz, mit dem Lastwagenfahrer Michi, der sein gesamtes durch mehrere Ehen und jeder Menge Kinder gekennzeichnetes Leben vor ihm ausbreitet, kommt für einige Nächte in einem Kloster unter und auch in einem Puff – nicht vergessen, es eisiger Winter –, trifft auf einen diebischen Kaplan und tröstet sich am Busen einer geraubten Braut. Immer wieder rettet ihn seine Ahnungslosigkeit und Unkenntnis der menschlichen Abgründe. Klar ist, dass zum Finale alles gut wird und Anatol endlich erwachsen ist. Von der Großmutter heilig gesprochen: Burgschauspieler Josef Meinrad. Hier im Film "Der Kardinal", Otto Preminger, 1963. © cinema.de

Obwohl Susanne Falk in Schleswig-Holstein geboren ist, trifft sie eine Art Schönbrunner Deutsch in diesem Wiener Roman. Als Studentin hat sie in Wien gelebt und in einer Wiener Kunstaustellung als Aufsicht gearbeitet. Buchcover © Picus VerlagWie Anatol hat sie das Kommen und Gehen der Besucher*innen, der Tourist*innen und Schulklassen beobachtet. Aber auch der Blick in die Döblinger Bürgerfamilie amüsiert bestens und die Großmama, für die der ehemalige Priesterseminarist und 1996 verstorbene Burgtheatermime und Volksschauspieler Jsef Meinrad „ein Heiliger“ und moralischer Ratgeber ist, brilliert als herrschsüchtige Grande Dame der Wiener Gesellschaft. Falk erzählt flüssig und wechselt, um die Spannung zu erhalten, gekonnt die Schauplätze, sodass man quasi zwei Reisen zugleich erlebt, die aufregende von Anatol mit Chagall in unterschiedlichsten Gefährten und die der Familie im voll besetzten uralten Mercedes Cabrio der Großmutter. Alle sind sie höchst lebendig und auch nicht mundfaul. Nur Anatol ist eher kurz angebunden.
Keine große Literatur, doch beste Unterhaltung.

Susanne Falk: „Anatol studiert das Leben“, Picus 2018. 360 S., Paperback. € 18,--