Zum Hauptinhalt springen

Anne Holt: Der neue Roman, fast ein Horrorfilm

.Hundefreundin Anne Holt hat den Corona-Lockdown genossen

Wenn die norwegische Autorin Anne Holt einen Roman mit dem Titel Zwölf ungezähmte Pferde schreibt, dann spielt der sicher nicht auf einem Ponyhof. Die längst pensionierte Polizeibeamtin Anne Wilhelmsen, die 1993 mit Holt in Blind gudinne (Die blinde Göttin, 1995) ihr Debüt gefeiert hat, h und löst den verwirrenden Fall. Zwölf ungezähmte Pferde ist ein aufregender und abschreckender Roman, unglaublich und doch realistisch. Anne Holt greift mit bloßer Hand ins Feuer. 

Schauplatz Oslo bei Nacht. Wie die Autorin hat auch ihre Protagonistin Hanne Wilhelmsen im Lockdown die Nacht zum Ausgehen genutzt.Hanne Wilhelmsen, einst bewundert und respektiert – von den Kolleginnen bei der Polizei und auch von den Leserinnen  – hat sich durch mangelnde Empathie, Stolz und Eigensinn selbst ins Out geschossen. Ihr bester und einziger Freund, der sensible Ermittler Henrik Holme, hat aufgegeben, nachdem sie ihm mit Beschimpfungen die Tür gewiesen hat. Hanne Wilhelmsen ist scheinbar bösartig und vor allem einsam.
Holme muss sterben. Er ist der Lösung des Rätsels um die  unerklärbaren Schwangerschaften schon recht nahe, zu nahe, gekommen. Natürlich ist das auch dramaturgisch notwendig, würde Henrik weiter ermitteln und sein Verdacht sich erhärten, hätte die Wilhelmsen gar nichts zu tun, würde noch tiefer in die Depression sinken und der Roman zu Ende sein, bevor sie eingreifen kann. Das wäre kein Service an den Holt-Begeisterten Leserinnen.
Nicht nur Henrik Holme hat Hanne verlassen, ihre selbstbezogene, ruppige bis unflätige Art, ihre eisige Distanziertheit haben auch ihre Frau Nefis und die gemeinsame Tochter aus dem Haus getrieben. Und auch die junge Verlagsangestellte Ebba Braut, die ihr erst vor kurzem bei der Aufdeckung eines schwer begreiflichen Verbrechens geholfen hat, hat die bärbeißige Hanne hinausgeworfen. Jetzt sitzt sie verbittert in ihrem Rollstuhl und behauptet, sie brauche keine Hilfe. Seit 20 Jahren ist die ehemalige Superermittlerin durch einen Schuss in den Rücken querschnittgelähmt. In der Pandemie nützte sie die Nacht, um an den nahen Park zu sollen. Menschenmengen waren ihr schon immer zuwider und, dass alle Bewohnerinnen Oslos in ihre vier Wände gesperrt waren, erfüllte sie mit Genugtuung. Doch die Ausgangssperren sind aufgehoben und Hanne, wird nicht mehr gebraucht, für junge Kolleginnen ist sie nur noch eine Legende. Das tut weh. Doch sie würde es niemals zeigen.
Zum Wohlfühlen ist der jüngste Roman von Anne Holt nicht gedacht, der kalte  Hauch von  Einsamkeit durchzieht die  armseligen und kleinen und teuren großen Wohnungen in Oslo und die schäbigen Katen auf dem Land. Und, wie so oft, zeigt die Autorin ein Problem auf, das die Gesellschaft, nicht nur in Norwegen, zu Recht beunruhigt.
Doch Ebba hat ein Problem, mit dem sie nicht allein zurechtkommt und braucht Hanne. Noch mehr braucht Hanne die kluge und fügsame Ebba. Die Polizei will Henriks Tod nicht untersuchen, doch Hanne wittert ein Verbrechen und erwacht aus ihrer Lethargie. Ebba muss ihr helfen, ins Land zu fahren und an fremde Türen zu klopfen. In der Polizeizentrale ist man nicht glücklich über Wilhelmsens Aktivitäten, doch Hanne kann, wenn sie will, auf charmante Weise lästig sein, sodass sie bald Kontakte in ihre alte Dienststelle hat, die sie mit den nötigen Informationen versorgen.
Bis Ebba und Hanne die schreckliche Wahrheit über die Incels, misogyne Männer, erfahren und damit Anne Holt auch den Titel ihres jüngsten Romans erklärt, erfährt man von einer neuen Methode Kinder zu zeugen und genießt gelegentlich auch das Aufblitzen von Anne Holts Humor. Die norwegische Autorin ist einsame Klasse, mit niemandem zu vergleichen, Sie hat keine Methode, will, dass wir von echten Problemen und auch unangenehmen Wahrheiten erfahren und darüber nachdenken. Sie bringt ihre Leserinnen zum Staunen und provoziert stets wechselnde Gefühle, weil ach ihre Geschöpfe nicht aus Papier geschnitten sind. Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut mit Licht- und Schattenseiten und auch dem / den Bösen schaut Anne Holt in die Augen.
Allmählich werden wir uns wohl von Hanne Wilhelmsen verabschieden. Sie ist zwar eben erst 60 geworden, doch wenn sie weiterhin auch die wenigen Menschen, die sie lieben, verprellt, werden auch die treuen Leserinnen aufgeben. Vorsorglich hat die Autorin ihren Leserinnen schon eine neue Detektivin vorgestellt. Selma Falck, nicht so scharfkantig wie Hanne W., doch natürlich voller eigener Probleme. Sie  musste ihren Beruf als Anwältin aufgeben und nun stochert sie in Fällen herum und riskiert dabei jedes Mal ihr Leben. Drei Bände sind bisher erschienen, doch sind Falcks Konturen immer noch verschwommen.  Doch wahr ist, dass Hanne Wilhelmsen eine so perfekt kontrierte vielschichtige Figur ist, dass sie trotz ihrer Unzulänglichkeiten alle  anderen Ermittlerinnen, die Anne Holt im Repertoire hat, überragt. Sie hält sich nicht an Regeln und das gängige Vorgehen der Kollegen, so wie ihre Schöpferin sich keineswegs den Regeln eines gewöhnlichen Krimis folgt. Noch bin ich Hanne Wilhelmsen treu und hoffe, dass sie nicht an ihrer Einsamkeit zugrunde geht. Im nächsten Band will ich sie bissig, aber nicht bösartig sehen und sie vielleicht auch lachen hören. Mit Ehefrau Nefis und Tochter, Ida ist das möglich.

Anne Holt: Zwölf ungezähmte Pferde / Tolv utemte hester, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Atrium 2025. 512 Seiten, € 24,70. E-Book € 18,99.
Anne Holt: Eine Idee von Mord / Mandela-Effekten, übersetzt von Gabriele Haefs, Atrium, 2. Auflage 2025. E-Book: € 11,99.