Skip to main content

Gordon Daviot ist Josephine Tey ist ein Vexierbild

Autorin Nicola Upson mit Partnerin Mandy Morton in ihrer Radiosendung, EclecticLightShow.

Die Angelegenheit ist etwas kompliziert. Der Dramatiker Gordon Daviot ist nämlich die britische Autorin Elizabeth Mackintosh (1896–1952), die als Josephine Tey mit ihren Kriminalromanen Furore gemacht hat. Die noch heute geschätzte Autorin hat von Nicola Upson ein zweites Leben bekommen, indem die britische Schriftstellerin die wenigen belegten Fakten mit Fantasie und Menschenkenntnis anreichert. Die in England beliebte Autorin Josephine Tey mutiert zu einer Romanfigur.

Originalausgabe des 1. Bandes der Josephine Tey-Krimireihe, erschienen 2008. © Faber & FaberFacts und Fiction zu vermischen, ist eine Methode, die Gordon, Josephine und Elizabeth nicht besonders geschätzt haben: „Fiction über historische Tatsachen zu verfassen, ist so gut wie unzulässig.“ (Zitiert aus Gordon Daviot: The Privateer) Auch Gordon Daviot war eine Berühmtheit. 463-mal ist ab 1932 das Theaterstück Richard of Bordeaux aufgeführt. Der junge Theaterdirektor und Darsteller der Titelrolle, John Gielgud (1904–2000), begründete damit seine Karriere.    Das Gielgud-Theatre, erbaut von William George Robert Sprague, der auch das nahe Wyndham Theatre, der Schauplatz des 1. Romans, erbaut hat. © Wikipedia             Als die Sachbuchautorin Upson vor gut 25 Jahren von Teys Roman The Franchise Affair (verfilmt 1952, Fernsehversionen von 1962 und 1988) fasziniert worden war, hat sie nach einer umfassenden Biografie dieser vielseitigen Autorin gesucht und keine gefunden. Schnell war sie entschlossen, diese Lücke zu füllen, was sich als schwieriger als erwartet gestaltet hat, Elizabeth Mackintosh (Josephine Tey / Gordon Daviot) lebte sehr zurückgezogen und stand nicht gern in der Öffentlichkeit. Das mag auch mit ihrer sexuellen Vorliebe zusammenhängen. Alles deutet darauf hin, dass Mackintosh lesbisch war, was zu ihren Lebzeiten nicht nur in Großbritannien strafbar war. In ihren Romanen verschwiegt Tey dieses und auch andere brisante Details keineswegs, behandelt sie jedoch mit aller Vorsicht und oft nur zwischen den Zeilen. Das Wyndhams Theatre, an der Charing Cross Road, wurde 1899 erbaut, gleich neben dem New Theatre und mit diesem durch einen geheimen Gang verbunden. 2006 wurde das New Theatre, ebenfalls im Besitz von Sir Charles Windham, in Noël Coward Theatre umbenannt. © wikipedia Nicola musste diese Vorsicht nicht mehr walten lassen, sie lässt Josephine offen mit ihrer Liebe Martha zusammenleben. Allerdings noch nicht im ersten Roman, An Expert in Murder, der 2008 auf Englisch erschienen ist. Josephines sexuelle Orientierung wird nur angedeutet, während die fiktiven Darsteller:innen deutlich charakterisiert werden. Experte in Sachen Mord ist jetzt auch auf Deutsch erhältlich, übersetzt von Verena Kilchling für den Verlag Kein & Aber. Die britiische Schauspielerin Gwen Ffrangcon Davies. Gemeinsam mit Gielgud ist sie in Deviots Drama „Richard von Bordeaux“ aufgetreten. © wikipedia Damals, als Upson begann zu recherchieren, lebten noch einige Größen, die Elizabeth Mackintosh gekannt haben. Vor allem das Theaterteam rund um Gordon Daviots Erfolgsstück Richard of Bordeaux, die Upson gern Auskunft gegeben haben. Doch irgendwie schien ihr die Autorin / der Dramatiker immer wieder zu entgleiten, sodass sie ihr Vorhaben, eine Biografie zu schreiben, aufgeben musste und beschloss, Josephine Tey (die Elizabeth Mackintosh verdeckt und Gordon Daviot als Schatten hinter sich hat) neu zu formen.der junge John Gielgud, 1936 fotogrfiert von Carl Van Vechten. Quelle: Van Vechten Collection der Library of Congress. © gemeinfrei
Im ersten Band überdeckt das Leben hinter der Bühne, die Intrigen, Eifersüchteleien und Konkurrenzkämpfe die reine Krimihandlung, der es jedoch nicht an Spannung und Überraschungen mangelt. Wie Tey selbst hebt auch Upson sämtliche Schleier und Vorhänge und schaut unter jeden Teppich, auch die ehrwürdigsten Familien hüten ihre Geheimnisse, die ans Licht kommen müssen.Motley Kostümentwurf. Unter dem Namen Motley arbeiteten die Schwestern Margaret und Sophie Harris mit Elizabeth Montogomery als Bühnen- und Kostümbildner-Trio. Ihr Ruf reichte bis New York. Bis ins späte 20. Jahrhundert war Motley noch ein begehrtes Label für Bühnenausstattung. © wikipedia  .
Große Freude macht auch der mit der britischen Theatergeschichte nicht vertrauten Leserin, die Schlüssel ins Schloss zu stecken und den fiktiven Figuren ihre realen Vorbilder zuzuordnen. John Gielgud ist schon erwähnt worden, seine Partnerin war Gwen Ffrangcon-Davies. Und das berühmte Designerkollektiv Motley. Eigentlich waren es drei Damen, die die Londoner und auch New Yorker Bühnen ausgestattet und die Kostüme für viele Stücke entworfen haben. Margaret (1904–­2000) and Sophia (1900–1966) Harris and Elizabeth Montgomery (1902–1993), die gemeinsam unter dem Namen Motley gearbeitet haben. Josephine Tey hütete ihr Privatleben. © http://www.josephinetey.net/Als Motley-Schwestern sind sie mit dem Gentleman-Kommissar, Archie Penrose, befreundet und auch mit Josephine. Sie sind der Sonnenschein im düsteren Krimi, stets gut aufgelegt, freundlich und fleißig. Während in den Couloirs und den Künstlergarderoben über Tournee und neue Besetzungen gestritten wird, spielt der Mörder, von Rachedurst angetrieben, weiter sein tödliches Spiel. Bis endlich alle Fäden entwirrt sind und das komplizierte Komplott, dessen Wurzeln im Ersten Weltkrieg liegen, aufgeklärt ist, fließt einiges Wasser die Themse hinunter. Josephine und Detektiv Archie Penrose müssen erfahren, dass das Böse auch vererbt werden kann.Eines der raren Fotos von Josephine Tey. © wikipedia
 Von Anna-Christin Kramer übersetzt ist auch der vorläufig letzte Band der Josephine Tey-Serie: Dear Little Corpses (Liebe kleine Leichen). Der deutsche Titel klingt weniger grausig: Dorf unter Verdacht, der 10. Band der Reihe. Die spannende Suche nach einem verschwundenen Kind zu Beginn des 2. Weltkrieges führt die Leserin nach Suffolk. Ausgangspunkt der Handlung ist die großangelegte Aktion, Londoner Kinder aufs Land zu bringen, um sie vor den Luftangriffen zu schützen. Josephine hat mit  ihrer Freundin Marta in dem kleinen Ort ein Ferienhaus und wird in die Ereignisse hineingezogen. Archie Penrose, der Detektiv, ist zufällig in der Gegend und kann sich ebenfalls der Suche nicht entziehen.  Cover: Nicola Upson „Experte in Sachen Mord“ © Kein & Aber.Am Tag des Dorffestes werden auch die Busse mit den Kindern aus London erwartet. Zwischen Eiertanz und Sackhüpfen sollen die Pflegefamilien die fremden Kinder übernehmen. Das Chaos ist kaum zu ordnen und es fällt niemandem auf, dass die kleine Marie verschwunden ist. Die Mutter glaubt sie bei der Großmutter, doch diese denkt, die Enkelin sei auf der anderen Dorfseite bei den Eltern. Am nächsten Morgen bricht zuerst im Elternhaus von Marie Panik aus und nur wenig später wuchern Verdächtigungen und Misstrauen in jedem Vorgarten. Nicola Upson erzählt mit ruhigem Blick für Details und hat sowohl die historischen Fakten wie auch das Dorfleben im Auge. Ein Lesevergnügen, das mit Hangen und Bangen durchsetzt ist. Kindern soll auch im Roman kein Leid geschehen.

Nicola Upson: Kriminalromane in der Nachfolge der britischen Autorin Josephine Tey (Elizabeth Mackintosh), die auch die Hauptperson der 10 Bände ist. Alle Bände bei Kein & Aber, 2023, auch als E-Book erhältlich.  Nicola Upson: Cover „Dorf unter Verdacht“. © Kein & Aber.
Experte in Sachen Mord, (An Expert in Murder, 2008), aus dem Englischen von Verena Kilchling 480 Seiten, € 22,70.
Dorf unter Verdacht, (Dear Little Corpses, 2022) aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer. 400 Seiten, € 21,60.
Mit dem Schnee kommt der Tod (The Dead of Winter, 2020) aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer. 336 Seiten, € 20,60.