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Familienalbum mit trüben Bildern

Erfolg mit einem Debütroman: Lina Nordquist

Lina Nordquist, geboren 1977 im schwedischen Norrala in Hälsingland, hat ihren ersten Roman geschrieben. Dit du går, følger jag (Wohin du auch gehst, ich folge dir) ist der schöne Titel, sodass man vermuten darf, einen Liebesroman in Händen zu halten. Im Diogenes Verlag setzt man mehr auf Düsternis und nennt das Erstlingswerk Mein Herz ist eine Krähe. Man vermutet gar nichts.

 Nordquist ist nicht nur Politikerin, sie ist außerordentliche Professorin für Physiologie und hat sich einen Namen in der Diabetesforschung gemacht. Seit 2018 ist sie Mitglied des schwedischen Parlaments. Sie Lebt mit ihrer Familie In Uppsala. Die Frage, wann sie Zeit gefunden hat, den Roman, den ich lieber „Aufzeichnungen aus einem vergangenen Jahrhundert“ nennen möchte, zu schreiben, bleibt unbeantwortet.
In Hälsingland, wo sie geboren worden ist, spielt auch ihr Romandebüt. Es ist eine Familiengeschichte, die vor allem von drei unterschiedlichen Frauen handelt, die in seltsame,  geheimnisvolle Beziehungen verwickelt sind.  Die Tronka, das ehemalige „Narrenhaus“ von Trondheim, steht immer noch. Unni ist mit ihrem kleinen Sohn daraus geflohen.© wikipediaZwei Frauen, die noch im 19. Jahrhundert geborenen Unni und die 70 Jahre später geborene Kåra, mit Unnis Enkelsohn, Dag, verheiratet, also Unnis Enkelschwiegertochter ist, erzählen ihre Geschichte und auch die von Bricken, die Unnis Sohn, Roar, geheiratet hat. Schwiegermutter Unni ist mit ihrem Beschützer und Liebhaber, Armod, und dem Babysohn, Roar, aus Norwegen nach Schweden geflohen. Hälsingland, der Schauplatz des Romans, besteht vor allem aus dichten Wäldern. © MartinEdstrom SE MDie Autorin zäumt das Pferd am Schwanz auf und beginnt mit dem Ende: Kåra meldet sich als erste zu Wort und erzählt, dass der Schwiegervater, Roar, gestorben ist und sie die Begräbnisvorbereitungen nicht seiner Frau Bricken überlassen will, sondern selbst alles regeln will. Die alte Unni hatte damals das Haus, weitab von der nächsten Siedlung, längst verlassen. Von einem Tag auf den anderen ist sie verschwunden, wer weiß wohin gewandert. Damals, als Roar geboren worden ist, musste Unni aus ihrer Heimat fliehen, das Kind hatte sie wider Willen empfangen, der Pfarrer in Trondheim hat sie vergewaltigt und das kräuterkundige junge Mädchen in das Tronka, das Narrenhaus, gesperrt und später wegen der Sünden angeklagt. Bevor sie vor Gericht gezerrt wurde, nahm Unni Reißaus, unterstützt von Armod, der ihr zuliebe seine Heimat verließ. In Hälsingland   sind noch alte Bauernhöfe zu besichtigen. In manchen darf man auch den Urlaub verbringen. Im Bild: Der gescütze hof Erik Anders. Bauernhof Erik AndersDurch den Wald und über den Fluss fliehen sie nach Norwegen, wo sie niemand kennt und lassen sich mitten im Wald in einer verfallenen Kate nieder. Dem Gericht ist Unni entflohen, doch nicht der Armut und Not. Jeden Winter muss von neuem ums Überleben gekämpft werden. Der nagende Hunger höhlt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele aus.  Roars Schwester stirbt als durchsichtiges Gerippe.
Eine Vergewaltigung genügt nicht. Der über alles geliebte Armod wird von einem Baum erschlagen. Unni ist jetzt allein, muss dem verrohten Waldbauern die Miete für die von Roar instand gesetzte alte Hütte mit dem Körper bezahlen. Sie hat drei Kinder zu ernähren, kann ihm jetzt nicht folgen, wohin er gegangen ist. Das Elend nimmt kein Ende.Die Kirche von Söderhamn,einer der wenigen Orte in Hälsingland. Dort tätigen die Frauen ihre Einkäufe. © wikipedia
Roar wächst zu einem Mann heran, heiratet Bricken, die gebiert ihm einen Sohn, der sich zu einem Sonderling entwickelt, keine Empathie für die Menschen um ihn empfindet. Kåra will ihn heiraten, vielleicht wird sie auf diese Weise ihre Angststörungen los. Auch der gemeinsame Sohn ändert nichts. Eine Paar, das keine Beziehung eingehen kann. Kåra sucht die Liebe, die sie zum Überleben benötigt, bei einem anderen. Glücklich macht sie dieses Brennen nicht.
Lina Nordquists Stil ist schwerfällig, die Sätze tropfen wie Kiefernharz von den Bäumen, zäh und bitter. Jedes Kapitel erweckt neues Grauen, wird zu einem schwarzen See aus Trauer und Tod. Mir erscheinen diese fremden Metaphern und sonderbaren Vergleiche etwas weit hergeholt, künstlich bis manieriert. Das Wappen wurde 1560 in der Amtszeit König Gustav Wasas offiziell verliehen. Es zeigt einen stilisierten Ziegenbock Hälsingland ist für seine Bauernhöfe, die sogenannten Hälsingehöfe (Hälsingegårdar), bekannt. © wikipediaWir wissen nicht, wie die Bewohner von Hälsingland in vergangenen Jahrhunderten gesprochen haben und auch nicht, ob man diese konstruierten Sätze, die leblos umherhängen, überhaupt ins Deutsche übersetzen kann. Schön, beruhigend, dem Menschen nützlich ist die Natur selten, in jedem Staunen, jeder der seltenen Freuden klingt auch die Bedrohung mit. Schließlich steht dieses Haus, das Unni und Armod „Frieden“ getauft haben, mitten im düsteren Wald von Hälsingland, ein Gebiet im Osten Schwedens, teilweise an der Küste gelegen. Die Provinz ist heute großteils Naturschutzgebiet und seit 2012 stehen sieben alte Bauernhöfe auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Der Winter ist lang in Hälsingland, das spüren auch die Krähen. ©  Ramessos / wikipediaAuch in Kåras Leben spielt Natur mit Fauna und Flora eine Rolle. Sie ist es, die der deutschen Ausgabe den Titel gibt. Es ist allerdings ein einziger Satz, in dem die Krähe eingesetzt wird. Das gefällt mir gar nicht, denn mir sind Krähen lieb und wert.

Mein Herz ist eine Krähe hoch oben in einem Baum. Mal krächzt sie in der Ferne, mal kommt sie näher. Ich schätze, ich wurde so geboren, und trotzdem habe ich mich oft gefragt, warum die Krähe gerade mich ausgewählt hatte.

Kåra wählt eine seltsame Metapher: Ihr Herz ist eine Krähe. © wikipedia                Jede lebt in ihrem eigenen Gefängnis, drei Generationen einer unglücklichen Familie, die sich selbst immer tiefer in den Abgrund stürzt. Die tapfere Unni, die den Lebenskampf nicht aufgibt, bis ihr Wissen sie forttreibt und die depressive Kåra, die nur überleben kann, wenn andere sterben und dazwischen Bricken, Roars Frau, die nach der Geburt des Sohnes nie mehr mit ihrem Mann schlafen wird, sind die Protagonistinnen. Das Leben einfach zu leben ist allen Dreien nicht möglich, sie können nur schweigen. Nach Roars Tod wird das Haus Frieden wieder verfallen, niemand will mehr darin wohnen.
Buchcover © Diogenes Verlag Als Leserin versinke ich einem Sumpf an Brutalität, der mir fremd ist, den ich nicht verstehe, der nichts mit mir zu tun hat und in einer Zeit seine üblen Dämpfe entlässt, die längst vergangen ist. Obwohl damals, als ich eine Teenagerin war, habe ich Selma Lagerlöf (1858–1940) und die Romane von  Sigrid Undset (1882–1949 ) verschlungen. Beide Autorinnen sind mit dem Nobelpreis geehrt worden, die Schwedin Lagerlöf 1909 als erste Frau, die Norwegerin Undset 1928 „Vornehmlich für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter“. Die Themen sind ähnlich, Schuld und Sühne, die Kraft der Liebe, immer auf einem christlich-konservativem Fundament. Sie erzählen Geschichten von früher, in ihrer aktuellen Sprache. Lina Nordquist, so scheint mir, versucht, ihre Sprache dem Thema und der zurückliegenden Zeit anzugleichen und legt den Protagonisten hochtrabende Sätze in den Mund, die nicht zu den einfachen, bäuerlichen Figuren passen. Das macht den Roman so schwer lesbar.
Lina Nordquists Romandebüt ist in Schweden als Buch des Jahres 2022 ausgezeichnet worden. Das deutsche Feuilleton schweigt. Doch in diversen Buchforen geben sich die Leserinnen „tief berührt“ und „aufgewühlt“. Soll sein! Ich finde keinen Mehrwert in einer Lektüre, die mir eine holzgeschnitzte Geschichte aus alter Zeit erzählt.

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe, Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat., 464 S., Diogenes 2023. € 25.70. E-Book: € 22,00.