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Wiener Festwochen: Mit Luca allein im Keller

Wiener Festwochen Plakat 2025. © Anna Breit

Wenn eine Aufführung mit dem vielversprechenden Titel Intimacies angekündigt wird, dann darf nicht mit einer großen Zuschauerzahl gerechnet werden. Auch nicht mit einer kleinen. Intimität, das ist nichts für die Öffentlichkeit, 1:1 muss genügen. Die Wiener Festwochen garantieren: Es ist Theater und bleibt Theater. Gefahrlos. Ich riskiere es und lasse mich im tiefen Keller des während der Wiener Festwochen zum Haus der Republik umfunktionierten Funkhauses mit Luca Bonamore einschließen.

Eine Art Logo für das Experiment „Intimacies“. © Dramaturgie Moritz NebenführEtwas zittrig sinke ich auf den bereitliegenden Polster, nachdem ich noch über ein paar hölzerne Stufen die endgültige Tiefe erreicht habe. Dem Performer so nahezu sein, ist mir nicht angenehm. Ich vermisse die vierte Wand und mag den Begrüßungsblick, der mir signalisiert, dass mich Luca Bonamore auf seiner unsichtbaren Bühne, erkennt, gar nicht. Sein Name ist auf der Liste für die einzelnen Slots gestanden, ich bin also nicht überrascht. Nur unangenehm berührt. Jetzt sind wir im Theater. Damals vor ein paar Wochen, eine alltägliche Begegnung, heute eine Ausnahmesituation, ich senke die Augen, will nicht erkannt werden, will auch ein Buch vor der Nase haben. Luca Bonamore als Student an der MuK. © MuK, Musik und Kunst -Privtuniversität der Stadt WienDas Setting ist unausgeglichen: Bonamore weiß, was er tut und tun soll. Er hat einen Regisseur, einen Dramaturgen und den Text zur Seite. Die Zuschauerin ist ahnungslos, weiß nicht, was (oder ob überhaupt etwas) passieren wird.
Bei Intimacies gilt das althergebrachte und üblich Theatergesetz nicht. Ich kann als Zuschauerin nicht in der anonymen Masse versinken, der Darsteller ist kein Freund, kein Bekannter ober Verwandter, kein Privatmensch, er ist eine Rolle, er spielt (mir) etwas vor.
Gleich sehe ich ihn als Hamlet, eine Brille auf der Nase, ein Buch vor Augen. Möglicherweise ist er auch ein Lehrer, elegant gekleidet in grauer langer Hose und dunklem Sakko über dem gestreiften Hemd. Herr Professor Bonamore oder so jemand. Porträtfotos des Regisseurs  Lennart Boyd Schürmann. ©  Nicole Marianna Wytyczak / Wiener FestwochenNoch ist er weit entfernt von der Zuschauerin. Ich denke über den Raum nach und beschließe, es ist ein ehemaliger Fitnessraum für die Radiomitarbeiterinnen. Schaut zwar aus wie ein Turnsaal, ist aber dafür zu klein bemessen. Geräte sehe ich keine. Der lesende Lehrer versenkt sich, also seine Nase, direkt ins Buch, riecht an den Seiten und liest mir dann den ausgewählten Text vor. Leider hat er eine englische Übersetzung eines französischen Textes gewählt. Renaud Camus: „Tricks“, Cover der deutschen Ausgabe  mit dem Vorwort von Roland Barthes. © Bruno Gmünder, TaschenbuchDas Original wäre mir lieber, mein Englisch reicht nur für Sätze in einfacher Sprache, aber nicht für literarische Texte.
Egal, ich habe mich durchgekämpft und genug verstanden, um zu erkennen, was ich dazu hören bekomme: Roland Barthes (Philosoph und Schriftsteller, 1915–1980) Vorwort zu Tricks, einer Sammlung von Erzählungen von Renaud Camus (Schriftsteller, Politiker mit krausen Ansichten, *1946). Camus war ein Schüler und Freund von Barthes, beide eint ihre Homosexualität. Trick steht für eine flüchtige Begegnung, die nur einmal stattfindet, „mehr als Cruising, weniger als Liebe: eine Intensität, die vorübergeht ohne Reue“ (Barthes). Was der Autor des Vorworts an den Berichten über diese Begegnungen so schätzt, ist die literarische Qualität. Luca Bonamore in „Silent Lovers“ , ImPulsTanz 2024. © Atila VadocDie Sache (La Chose) wird niemals angesprochen, sie steht auch nicht im Mitteilpunkt, es ist die Person, die den Autor interessiert, meint Barthes: „Der Realismus findet einen neuen Ort, es ist nicht die Liebesszene, es ist die soziale Szene. Dieser Übergang vom Sex zum Diskurs ist in Tricks so erfolgreich gelungen.“
Die Verbindung zum Performer ist leicht herzustellen, auch seine Wirkung beruht darauf, dass er in seinen Auftritten von Homosexualität erzählt, ohne das Thema auszusprechen. Der Übergang von Sex zu einer Performance ist das Geheimnis seines Erfolgs.
Die Schönheit des Textes, des Vortrags, des Vortragenden entspannt mich. Ausschnitt aus „SilentLovers“, ImPulsTanz 2024.  © Pascal SchratteneckerIch lehne mich genüsslich zurück an die Wand, sehe zu, wie Luca am Boden liegend ein Haiku spricht, die Brille abnimmt, Sakko und Hemd mit elegantem Schwung auf den Boden befördert, sich als Dragueur, als Verführer entpuppt. Er ist nur für mich da, ohne jegliche Peinlichkeit. Liebe und Begehren haben nicht immer etwas mit Sex zu tun. Und außerdem, wozu brauche ich die vierte Wand!
Intimacies ist noch im experimentellen Stadium, noch sind der einzelnen Begegnung zwischen Performerinnen und ihrem Gegenüber (man ist ja mehr als stumme Zuschauerin, man wird zum Teil eines Duos) choreografiert und inszeniert. Regisseur Lennart Boyd Schürmann kann sich eine Erweiterung des Formats gut vorstellen: Pgrammpressekonferenz Wiener Festwochen 2025.  © ORF Guenther Pichlkostner„Es wird eine Basisvorstellung angeboten, die bezahlt man. Dazu gibt es aber eine Menükarte, auf der Erweiterung aufgelistet sind, die man, wenn die Vorstellung gefällt, aktuell dazu buchen kann. Wie man eben im Restaurant sein Menü zusammenstellt. Danach bezahlt man die Nachbestellungen.“ Zugrunde liegt der Idee, nicht nur die intime Begegnung, sondern auch die Suche nach neuen Formen und Orten der Darstellung, weg von den fixen Häusern mit vorgegebenem Programm und der Bettelei um Subventionierung. „Was mir vorschwebt, ist eine performative Dienstleistung, ein On-Demand-Service.“ (L.B, Schürmann) Die gleiche Prozedur wie jedes Jahr zur Festwocheneröffnung: Das Wiener Rathaus wird bunt angestsrahlt. © Wiener Festwochen
Nachtrag: Zwei Tage nach der 1:1-Performance, habe ich sämtlichen Menschen, die ich getroffen habe, die Visitenkarte mit den winzigen Spuren eines Kolibris gezeigt und von meiner Begegnung im Turnkeller erzählt. Ein Erlebnis wird erst richtig real, wenn man es teilen kann. Unter der Lupe werden die Vogelspuren zu Lucas Schrift: „Ask für Luca“. Dragueur! Schauspieler!

intimacies, Miniaturen einer flüchtigen Begegnung
Konzept & Regie: Lennart Boyd Schürmann; Dramaturgie: Moritz Nebenführ
Mit Joscha Baltha, Luca Bonamore, Martina de Dominicis, Fatima Dramé, Liina Magnea, Nick Romeo Reiman & Olivia Axel Scheucher, Elena Wolff
Office: Lara Liebhart; Termine an vier Wochenenden: 24., 25. Mai; 31. Mai, 1. Juni; 7., 8. Juni; 14., 15. Juni 2025; Haus der Republik / Funkhaus Argentinierstr. 30A,
Das temporäre Büro von intimacies ist jeweils mittwochs bis samstags von 12 bis 13 Uhr in der Argentinierstraße geöffnet