
Geistertanz mit Vater

Ghost Riders von Yosi Wanunu und Peter Stamer mag auf den ersten Blick nicht unbedingt in den engeren Rahmen des ImPulsTanz-Festivals passen. Hat man den Abend aber erlebt, dann geht man so leichtfüßig-melancholisch aus der Dunkelkammer des Wiener Volkstheaters, wie es nur tanzende Geister können.
Abschied von den Eltern. Nicht der, den man versucht, wenn man sich nach der Schulausbildung von ihnen löst, um in andere Städte zu gehen, um was auch immer für einen „eigenen“ Weg für sich zu finden. Auch nicht jener der Flucht, weil Kindheit und Jugend keine Ausflucht ermöglichten und Gewalt zur täglichen Routine zählte.
Abschied für immer. Der ist gemeint. Und so unterschiedlich die Verhältnisse zu den Eltern waren, so verschieden werden auch die Abschiede für immer verlaufen.
An diesem Abend im Rahmen von ImPulsTanz 2025 sind es der Regisseur und Autor Yosi Wanunu, in Israel geboren und aufgewachsen, um danach über New York nach Wien zu kommen, heute österreichischer Staatsbürger, was er gleich zu Beginn der „Show“ betont. Und Peter Stamer, Mannheimer und in zahlreichen Funktionen fester Bestandteil deutschsprachiger freier Theater- und Performanceszenen. Ein „Ex-Israeli“ und ein „Deutscher“, heißt es so auch auf dem Begleitzettel, die sich an drei Abenden in der Dunkelkammer des Wiener Volkstheaters über ihre sehr unterschiedlichen Beziehungen – und eben auch Abschiede von ihren Vätern austauschen. Wobei der Austausch nicht unbedingt zwischen den beiden stattfindet, denn in einen Dialog im engeren Sinn treten sie bei Ghost Riders nie. Vielmehr sprechen sie Pingpong-gleich mit uns, dem Publikum, ihren Reisebegleiter:innen zu den Erinnerungen und Erinnerungsorten ihrer je unterschiedlichen Vater-Beziehungen. Und mit ihren Vätern selbst – etwa wenn Stamer seinen mit einer Glühbirne in der Hand eine letzte unbeantwortete Frage stellt oder Wanunu mit uns allen auf seinen Vater mit Anis-Schnaps anstößt und ihm dabei noch einmal einen letzten, weit entfernten Toast ausspricht.
Der Abend beginnt auch passend gleich mit einem Glas Wein (oder Wasser). Jede:r Besucher:in wird von den beiden Performern persönlich gefragt, was sie:er zu trinken haben will. Es soll ein intimer, ein intensiver Abenden des gemeinschaftlichen Gedenkens werden. Um „den Holocaust“ wird es nicht gehen, heißt es auch gleich zur Getränkeausgabe. Nein, um den nicht. Auch wenn sich vieles danach um religiöse Zugehörigkeiten – oder eben nicht – drehen wird. Um Rituale, denen man sich früh schon entfremdet hat und mit stetig wachsendem Befremden gegenübersteht im Laufe eines Lebens, das in so vielem so weit weg geführt hat. Wer sich also einen Abend über „den Holocaust“ erwartet hat, wird freundlich eingeladen zu gehen – wenn auch ohne Ticketpreisrückerstattung. Und wer sich einen Tanzabend – man ist ja bei ImPulsTanz – erhofft hat, wird auch sofort enttäuscht: Nein, Wanunu und Stamer werden ihre Vater-Beziehungen nicht ertanzen. Auch wenn es an einer Stelle des Abends eine kleine Fast-Stepp-Einlage geben wird. Davon wissen wir zu Beginn aber nichts und werden eingeladen zu gehen – dieses Mal mit garantierter Ticketpreisrückerstattung –, um nicht enttäuscht zu werden. Niemand geht. Und niemand wird in den 70 Minuten der unsentimentalen, da und dort aber dann doch rituellen Verabschiedung enttäuscht.
Stamer und Wanunu nehmen an einem schmalen, länglichen schwarzen Tisch Platz, Stamer vor einem elektronischen Klavier, auf dem er bald auch spielen und dazu singen wird, während Wanunu hie und da auf einer Art digitalem Vibrafon passende Stimmung zu machen versucht. Das hat Ironie und ist zugleich doch todtraurig. Abwechselnd erzählen die beiden wunderbaren (Selbst)Darsteller von ihren Vater-Beziehungen. Die eine besser und fast so etwas wie „klassisch“ – liebevolle (und manchmal nervende) Ähnlichkeiten, die man spät erst auch an sich selbst entdeckt; etwa, dass man gerne und viel redet und dabei meist vergisst, den anderen zuzuhören. Die andere von Gewalterfahrungen und politischen Debatten, die weit über einen lautstarken Wohnzimmertischdisput hinausgehen, geprägt. Der Schuh im Gesicht und die heruntergerissene Festtischgarnitur sind da nur zwei der vielen „Anekdoten“, die Wanunu erzählt, und die nur als solche an diesem Abend verstanden werden können, weil sie eben Wanunu erzählt. Sonst wären sie bei Weitem nicht so unterhaltsam – und sind es letztlich auch nicht.
Was sich in den herrlich sarkastisch geschilderten Episoden erzählt, sind vor allem unüberbrückbare Barrieren zwischen zwei Menschen, deren weltanschauliche Haltungen nicht unterschiedlicher sein könnten, von Religion über Politik bis hin zu charakterlichen Entzweiungen reichen diese. Etwa, unterhaltsamer, wenn Wanunu davon erzählt, dass sein Vater noch im Pflegeheim eine geheime Alkoholverkaufsstation unter seinem Bett betrieb. In den noch aktiven Jahren hatte derselbe Vater hingegen Bauchtänzer:innen zur Unterhaltung seiner männlichen Gäste eingeladen, denen man dann mit dem eigenen erregten Männerschleim die Geldscheine auf den Körper tätowierte. Hier macht der Abend deutlich, dass hinter all dem Unterhaltsamen eben doch ein lebensbegleitendes Grauen steckt, das selbst der beste Komödiant seiner selbst (und Wanunu ist ohne Zweifel ein solcher) nie ganz ablegen kann.
Stamers Erinnerungen wirken dagegen liebevoller, greifen jedoch nicht minder tabuisierte Themen auf, etwa die Frage, wie man dem eigenen Vater den Penis waschen soll, wenn dieser – und das wohl über ein halbes Leben lang – an Fibrose leidet. Wie die völlig verklebte Vorhaut für den Einseifvorgang des im Pflegeheim konsequent Ungepflegten zurückschieben, wenn man selbst keine hat (und so auch keine Wascherfahrung).
Umso lustvoll Stamer und Wanunu sich mehr und mehr in ihre Erinnerungsabgründe hineinreiten, umso schmerzhafter wird die Geister-Show, umso näher kommen die beiden Vater-Geister, die auch auf den kleineren Video-Screens im Rücken der Zuschauer:innen-Reihen und an einer größeren hinter den beiden Performern immer wieder aufzutauchen scheinen, meist aber nur als Nebelwesen an den Beobachtungen ihrer Söhne teilhaben (müssen).
Wanunu und Stamer bleiben an diesem Abend Söhne, die trotz aller Grausamkeiten (Wanunu) und Schweigsamkeiten (Stamer) dem Unversöhnlichen ihre je eigenen Wesenheiten im Heute entgegenstellen. Autoren und Performer, Musiker, Sänger und – ein bisschen zumindest – Tänzer sind sie an diesem wundersamen Abend. Magier sind sie auch ohne gescheiterte Glühlampenbeschwörung (Stamer) und abgebrochene Schiwa (Wanunu), Theaterzauberer ohne Zauber, aber mit großer theatraler Könnerschaft. Und sieht man Ghost Riders als klugen rituellen Tanz der Abschiede und Erkenntnisgewinne, dann ist seine Programmierung im Rahmen von ImPulsTanz doch eigentlich ganz logisch.
Toxic Dreams: Ghost Riders, 2., 4. & 6.8.2025, ImPulsTanz im Volkstheater / Dunkelkammer
Entwicklung und Performance: Yosi Wanunu/toxic dreams und Peter Stamer;
Musik: Peter Stamer; Visual und Sound-Support: Michael Strohmann;
Produktion: Kornelia Kilga
Fotos: © Jadranko Marjanovic