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Magdalena Schrefel: Sprengkörperballade

Sprengkörperballade: Die Töchter Veronika Glatzner, Alice Peterhans

In der Regie von Claudia Bossard bringt das Kosmos Theater derzeit die österreichische Erstaufführung des 2017 in Köln uraufgeführten Stückes Sprengkörperballade der 1984 in Wien geborenen Dramatikerin Magdalena Schrefel. Mehr Poem als Ballade ist dieses Stück, das sich unterschiedlichen Konstellationen von Beziehungen in Form von Geschichten widmet, die man wohl gemeinsam erlebt haben mag, aber immer so ganz anders erzählt, als es die andere/n tun würde/n.

Da sind eine Mutter und ihre beiden Töchter, die einst, noch mit dem Vater, die Flucht angetreten haben.Alexandra Sommerfeld als Mutter: Von der traurigen Diva bis zur bösartigen Manipulatorin. Alle Bilder © Bettina Frenzel Das war nach dem Tag, als der „große Genosse“ gestorben und „das Kind geboren“ wurde, dem „Tag, an dem die Tränen kamen“. Und nach der Zeit der Geburt der anderen Tochter vor dem großen Unglück, das sich als die „Katastrophe von Tschernobyl“ erkennen lässt. Das war folglich vor dem Ende zweier Welten, die doch nie zusammengefunden haben, und vor dem langen Abschied des Vaters. Ob dieser sich wirklich im gleißenden Nebel, so, wie es die Mutter erzählt und gespielt sehen will, vor die Schienen geworfen hat oder auch das schon Teil ihrer Geschichte ist, bleibt offen. Vielleicht ist er ja auch einfach nur gegangen, im Mantel – einmal Pelz, am Ende Trenchcoat – dem Licht entgegen. Einfach abgegangen von der Bühne, wie es die Frauen an diesem Ort zwischen Wohnung, Wohnblock und Weltmeer „nachspielen“.

„Niemals habe ich geweint“, sagt die Mutter, als sie vom Abschied von der Heimat erzählt, und obwohl das Wort Emigration nicht vorkommt, erzählt der Text auch vom langen Marsch auf die andere Seite. Die Familie, noch sind es vier, lebt in einem Wohnblock, groß, rot, verwinkelt und voll der lauschigen Ecken, in denen die Mädchen lernen, sich Stück für Stück für verkaufen, Sprengkörperballade: berührend und auch hochkomisch.Alice Peterhans spielt die jüngere Tochter. bis aus dem „Wir“ der kindlichen Spiele im betonenen Grau das „Ich“ der Erfahrung sexueller Gewalt hervorstöhnt. Auch die Mutter beschafft Geld auf so manche für ihre Töchter undurchschaubare Weise, der Vater nimmt Abschied, die drei Frauen bleiben alleine. Dann geht auch die ältere Tochter.

So musst du die Geschichte erzählen, sagt die Mutter zur Jüngeren und fragt diese gleich darauf, wie war es noch einmal? Wie habe ich es dir erzählt? Erzähl du mir meine Geschichte. Spiel mir meine Geschichte. „Das Spielen ist ein Gespielt-Werden“, heißt es so auch in Schrefels herb-poetischem Theatertext über die Fallen und Fänge der Erinnerung. Erzählt wird darin von Emigration und Emanzipation. Beides gelingt – und doch nicht. Die Mutter bleibt in ihren Erinnerungen gefangen und versinkt am Ende im Eismeer, während sie ihre ältere Tochter dabei beobachtet – „ich erforsche dich“. Die jüngere Tochter findet sich nicht mehr zurecht zwischen ihren eigenen und den Erinnerungen der Mutter. Da hilft auch der harte Aufruf der Älteren – mal Schwester, mal Freundin, mal Geist – nichts, endlich aufzuhören, von einem „Uns“ zu erzählen und einem „Wir“, das nie eines war.

Schrefel erzählt in Sprengkörperballade nicht nur eine Geschichte und nicht nur von einer Familie, sondern löst die Personen- und Erzählkonstellationen in drei ineinander verwobenen Episodensträngen auf: Die Mutter (Alexandra Sommerfeld) versinkt im Eismeer. Die Tochter (Veronika Glatzner) wendet sich ab.hier die Familie, da die Freundinnen, dort die Geister. Sie alle suchen nach einer Vergangenheit, die sie (ver)eint, nach Erinnerungen, die sie gemeinsam haben. Und diesem „Wir“, von dem nie eine weiß, was das eigentlich ist. Und das es, sagt die ältere Schwester – oder der Geist, oder die Freundin, die sie an dieser Stelle im Text ist – eben nicht gibt: „Das ist meine Geschichte!“ Während die Mutter also von der jüngeren Tochter verlangt, immer und immer wieder ihre Geschichte, also die Geschichte der Mutter genau so zu erzählen, wie sie, die Mutter, sie sich zurechtgelegt hat. Und während die beiden Geister, alt geworden, im Erinnerungsduett von Dingen erzählen, die so oder so oder auch so hätten gewesen sein können, so fordert die Freundin am Ende von ihrer Freundin, dieses „Wir“ endlich aufzugeben und die Geschichten so zu erzählen, wie sie waren. Zumindest wie sie für je eine von ihnen war. Und auch das ist schon variantenreich genug.

Brossard gelingt es in ihrer ersten Inszenierung am Wiener Kosmos Theater auf beeindruckend leichtfüßige Weise, sich kunstvoll durch die zahlreichen Windungen des Textes zu bewegen, ohne dabei die Figuren, die Schrefel selbst als „Flummibälle“ bezeichnet und auch so brachial durch Text und Raum schleudert, zu verlieren, egal, wie viele von ihnen wir an diesem Abend sehen. Für die Schwestern (Glatzner, Peterhans) gibt es kein "wir", keine heile Familie. Es könnten morgen auch mehr oder weniger sein. Dass dies in so schöner Präzision gelingt, ist vor allem das Verdienst der (schau)spielerischen Kraft ihrer drei Darstellerinnen: Was Alexandra Sommerfeld, Veronika Glatzner und Alice Peterhans in Sprengkörperballade auf die von Elisabeth Weiß mit wenigen, starken Mitteln – etwa einer in ihrer Verankerung und doch fragil vereinsamt dastehenden Tür oder einer Badewanne im Eismeer – gestaltete Bühne zaubern, ist großes Schauspieltheater. Sommerfeld als Mutter beherrscht jede ihrer zahlreichen Nuancen, von der traurigen Diva bis zur bösartigen Manipulatorin der Gedankenwelt ihrer Tochter, und changiert mit tragischer Leichtigkeit zwischen Medea, Die Mutter (Alexandra Sommerfeld) sing von ihrer Einsamkeit.Blanche DuBois und einer „Mutter Courage“, die sie nur zu deutlich niemals war. Veronika Glatzner als vom Leben gestählte „Ältere“ und Alice Peterhans als zwischen allen Stühlen und Geschichten nach einem möglichen „Ich“ suchende „Jüngere“ sind ein grandioses Duo von Bekett>scher Dimension. Existenziell, grotesk und immer wieder tief berührend ist fast jede der zum großen Teil hochkomischen Szenen, etwa wenn Sommerfeld zum Weinen schön im hellen Rampenlicht von ihrer Einsamkeit singt oder wenn am Ende einer absurden Tötungschoreografie die Leichen der Vergangenheit vom Ballast der Erinnerungen befreit in den Ecken liegen. Noch ein Schluck. Noch eine Geschichte. Noch einmal: So oder so hätte es doch gewesen sein können.

Sprengkörperballade von Magdalena Schrefel; Österreichische Erstaufführung; Regie: Claudia Bossard, Ausstattung: Elisabeth Weiß; mit: Veronika Glatzner, Alice Peterhans, Alexandra Sommerfeld. Premiere: 2. April 2019, Kosmos Theater;
Vorstellungen bis 18. April 2019.