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Jean Michel Bruyère: „L’habitude“, Festwochen

Die Halle dehnt sich ins Freie. © Nurith Wagner-Strauss

In der hinten offenen Gösserhalle 4 lässt der französische Regisseur und Filmemacher Jean Michel Bruyère über die Sklaverei nachdenken. Er sieht die theatrale, musikalische Installation als Prolog zu seinem geplanten Werkzyklus „Violence & Institutions“. Mit Bildern, Videos, Text und ohrenbetäubender Rockmusik schafft er eine beklemmende Atmosphäre. „L'habitude“ /„Die Gewohnheit“ heißt diese Festwochen-Uraufführung, denn, so hat schon im 16. Jahrhundert der französische Humanist Etienne de La Boétie festgestellt: „Erste Ursache für freiwillige Knechtschaft ist die Gewohnheit“. Teils irritiert, teils betroffen versuche ich mich zwischen brüllenden Lautsprechern, Fahnenstangen und nicht definierbaren Objekten zurecht zu finden.

 Videoschirme, Filmleinwand, Objekte füllen die Halle © Nurith Wagner-StraussKaum betritt die eher spräliche Besucherschar die große Halle, ist sie schon mitten im Geschehen. Die Dokumentation, zugleich eine Demonstration, wird gerade aufgebaut. Leitern werden umhergetragen, Transparente errichtet, Tafeln beschrieben, ein Bilderzyklus wird enthüllt und Männer, wie Priester in schwarze plissierte Röcke gehüllt, stehen an den Reglern, geben Anweisungen. Regisseur und Autor Bruyère hält sich im Hintergrund, lässt die Männer und Frauen des Marseiller Kollektivs LFKs arbeiten. In der „Fighting Arena“ werden Karate-Griffe geübt, auf eine Reihe von Bildschirmen sind Viet Cong-Kämpfer mit den MGs im Anschlag zu sehen. Die Gewehre zielen auf die Zuschauer*innen, ich will dort nicht mehr hinsehen.

Eine Frau hält eine Brandrede, die Lautsprecher krachen, ich verstehe gar nichts, auch die letzte Rede Che Guevaras klingt nur bruchstückhaft aus einer anderen zu laut eingestellten Box, beruhigend wirkt der Regen auf Cubas grüne Landschaft, der gleichzeitig als Film zu sehen ist. Später läuft eine schöne junge Frau durch Chicago, läuft und läuft und läuft: „Run Hard, Sister, Run“ ist der Titel des Films. Aus dem Film „Johanna von Orleans“ sehe ich nur großformatige Standbilder mit dem schönen Gesicht der Ingrid Bergmann. Der Lärm, den die Band The Fourth is Bearded aus Le Havre verursacht, wird unerträglich. Zuviel Hall in der Halle. Die angebotenen Ohrstöpsel mag ich nicht, also mache ich es wie viele andere Gäste, gehe hinaus in die Sonne, schleiche mich an der lebenden unter roten Fahnen aufrecht und unbeweglich sitzenden Jeanne d’Arc vorbei und besuche den priesterlich gekleideten Performer, der selbstgebraute Limonade ausschenkt, kühl und erfrischend. Eine Krone für die Kämpferin.(Maria Falconetti in "La Passion de Jeanne d’Arc", Regie  Carl Theodor Dreyer, 1928 © Nurith Wagne- Strauss

Erinnert wird in dieser Mischung aus Museum, Kino und Seminar, mit Folterwerkzeugen und Waffen von früher, Filmen, Reden, Bildtafeln und Sound an die Black Panther Aktvisitin Assata Shakur, die ihren „Sklavennamen“ JoAnne Deborah Byron gegen einen afrikanischen getauscht hat und 1973 wegen Mordes verurteilt worden ist, später aus dem Gefängnis geflohen ist und heute in Kuba lebt, wo sie politisches Asyl erhalten hat. Der FBI hat ein Kopfgeld auf ihre Ergreifung ausgesetzt und führt sie als meistgesuchte Terroristin auf seiner Liste. „Erste Ursache für freiwillige Knechtschaft ist die Gewohnheit“, schreibt sie in ihrer Autobiografie.
An Bobby Seal, Vorsitzender der Black Panther Bewegung, wird mit den Bildtafeln erinnert. Im berühmten Chicago 8 Prozess 1969 wurde er wegen mehrfachen Zwischenrufens vom Richter aus dem Saal befohlen, wo er gefesselt und geknebelt wurde. Er konnte kaum noch atmen und die Blutzirkulation stockte. Jean Michel Bruyère hat die Erzählungen der Zeugen in den Nationales Archives von Chicago recherchiert.

Assata Shakur: "Most Wanted Terrost". © New Jerse State Police / APQuer über der Halle hängt ein Transparent mit der Frage: „Do you feel free at the moment?“ Die Antwort ist leicht, ich habe mich entschieden diese Installation und Performance zu besuchen und bin nicht so frei, dass ich einfach gehen könnte, wenn ich wollte. Ins Freie dürfen die Gäste jedoch, und immer mehr machen von der ungeschriebenen Einladung Gebrauch. Dann sehe ich die Crew von LFKs samt Regisseur Bruyère am Limonadenstand friedlich plaudern. Die Stunde ist zu Ende, wir sind wieder frei, zu gehen.

Bruyère bietet eine bedrückende Schau, bei der viel Neues und Unbekanntes zu erfahren ist, über die alltägliche Sklaverei nachzudenken ist und man sich, so man Hardcore und Ultra Violence Getöse mag, auch unterhalten kann. Doch er weigert sich zu belehren und Antworten zu geben. Das macht diese eine Stunde zu einem Gewinn. 1968 schrieb H. Rap Brown (Jamil Abdullah Al-Amin) Vorsitzender des Student Nonviolent Committees und Verfasser der Autobigrafie „Die Nigger Die!“: „Unser einziger Ausweg aus der Sklaverei war bisher der Tod. Wir müssen einen neuen finden.“ Sklaverei ist nicht nur dort, wo wir sie vermuten, und wir haben uns daran gewöhnt. Daran erinnert Jean Michel Bruyères Arbeit.

Jean Michel Bruyère / LFKs: „L'habitude“, Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen. 8. Juni 2018, Gösserhallen.