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Compagnie Marie Chouinard in St. Pölten

"Henry Michaux: Mouvements" © Sylvie-Anne Par

Mit den beiden Stücken „Le Sacre du printemps“ und „Henri Michaux: Mouvements“ brachte die Compagnie Marie Chouinard das Festspielhaus St. Pölten zum Vibrieren. Ist Chouinards Choreografie zu Igor Strawinskys Ballett-Klassiker, uraufgeführt 1993 in Ottawa, bereits selbst zum Klassiker geworden, so ist der explosive Tanz zu den Gedichten und Zeichnungen des französisch-belgischen Poeten Henri Michaux (1899–1984) noch nicht so bekannt. In dem schmalen Band „Mouvements“ erzählt Michaux nicht vom bewegten Körper, sondern spricht von inneren Bewegungen, von Zweifel und Verzweiflung, von unmöglichen Wünschen, von im Nacken sitzenden Begierden und kopflosen Bewegungen, „denn was nützt der Kopf, wenn man überwältigt ist?“

Skulpur unter der Lichtdusche: Mathilde Monnard und Dominique Porte In "Le Sacre du Printemps" © Marie ChouinardWährend vor dem Festspielhaus dessen 20. Geburtstag schmatzend und schmausend als Gartenfest gefeiert wurde, versetzten drinnen die energiegeladenen Tänzer_innen aus Kanada das Publikum in Ekstase.
Marie Chouinard hat sich mit ihrer Interpretation der Musik Strawinskys bewusst von der ursprünglichen Geschichte eines Opferrituals gelöst. Sie erzählt keine Geschichte, lässt sich lediglich von den wechselnden Rhythmen der bis in alle Fasern des Körpers (nicht nur den der Tänzer_innen) dringenden Musik inspirieren. Wie einst der Choreograf der Uraufführung, Waslaw Nijinsky, setzt sie die Füße platt und fest auf den Boden, winkelt die Hände ab, lässt die Gruppe, einzeln, zu zweit, oder gemeinsam, stampfen und rennen. Wie Wesen aus einer anderen Welt tauchen die nahezu nackten Tänzer_innen aus dem Dunkel auf, bewegen sich in einzelnen L"Sacre", ein Duo von Carol Prieur mit James Viveiros © Nicolas Ruelichtkreisen, sind mit Hörnern und Krallen bewehrt und wirken, wenn sie, wie festgeschraubt unter der Lichtdusche der hellen Spots den Torso durchbiegen, wie zum Leben erwachte Skulpturen. Chouinards „Sacre“ ist ein magischer Tanz, den das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter dem in Berlin lebenden amerikanischen Dirigenten, Garrett Keast, durch aufwühlendes, die Dissonanzen akzentuierendes Spiel begleitet. Die Choreografin selbst spricht von einem Tanz „zwischen Erde und Himmel“, von „der Feier jenes Moments, als das Leben zum ersten Mal aufsprudelte“.

Wesen aus einer magischen Welt: Dominique Porte in "Le Sacre". ©  Marie ChouinardFür Marie Chouinard ist der menschliche Körper das Medium, mit dem sie sich ausdrücken will. „Körper und Sprache“ wählte sie als Charakteristikum für ihre 1990 gegründete Compagnie. Auch wenn ihr, vor allem in den frühen Jahren, oft bewusste Provokation vorgeworfen wird, so ist die weltweit erfolgreiche Kanadierin durch ganz andere Merkmale zu beschreiben: Marie Chouinard zeigt immer wieder (auch in den in St. Pölten gezeigten beiden Stücken) eine gute Portion von intelligentem Humor und Empathie, sie sprüht vor Lebenslust, deren selbstverständlicher Bestandteil der Eros ist. Trotz der überbordenden Fantasie, begeistert sie durch eine gesunde Bodenhaftung und unerschöpfliche Energie.

Diese, am Ende rauschhaft explodierende, Energie beflügelt, wie im „Sacre“, die Compagnie auch zu Michauxs „Mouvements“, uraufgeführt in Wien 2011 im Rahmen des ImPulsTanz Festivals. Der kanadische Komponist Louis Dufort, seit 20 Jahren eng mit Chouinard zusammenarbeitend, liefert die elektronische Musik, für Licht und Bühnenbild ist Choreografin Chouinard selbst verantwortlich. Carol Prieur zeigt "michaux: Mouvements" © Marie Chouinard
Die Kalligrafien Michauxs, chinesischen Schriftzeichen ähnlich, sind vergrößert auf die Leinwand im Hintergrund projiziert, die Tänzer_innen korrespondieren mit ihnen, bewegen sich synchron mit den Zeichen, Lucy M. May, bewegt von Michaux. ©  Marie Chouinardanfangs einzeln, erst allmählich formen sie sich zur Gruppe, werden immer schneller, während die unvergleichliche Carol Prieur, die seit 1995 das Herzstück der Compagnie ist, unter den Teppich kriecht und Michaux rezitiert.
Am Ende werden die schwarzen Tuschzeichnungen und die in ebenso tiefes Schwarz gekleideten Tänzer_innen zu Negativbildern. In weißes flackerndes Licht getaucht, geben sie sich einem rasenden Tanz hin. Feiern die Bewegung, die Liebe, das Leben.

Marie Chouinard: „Le Sacre du Printemps / Henri Michaux: Mouvements“, ein Abend im Festspielhaus St. Pölten in Kooperation mit ImPulsTanz, 9. Juni 2017.