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Ziellos kreisend auf dem schwankenden Planeten

Die Gruppe hat ihre Wanderung unterbrochen und ruht sich aus.

Der Choreograf Jefta van Dinther beschäftigt sich in all seinen Werken mit der Conditio humana, den Bedingungen der menschlichen Existenz. In seiner jüngsten Choreografie, Remachine, geht es um die Beziehung zwischen Mensch und Technik, analoge und digitale. Das Thema liegt in der Luft. Sind wir autonome Wesen, die frei sind, Entscheidungen zu treffen oder sind wir nur Rädchen in dem von uns geschaffenen System? Auch die österreichische Tänzerin Sara Lanner hat sich in ihrer Choreografie Weaving Structures mit dem Pendeln der Menschen zwischen Autonomie und Abhängigkeit auseinandergesetzt. Remachine war an zwei Abenden im Tanzquartier zu sehen.

JIm Zentrum die Maschine, ein selbst gebautes, sich ständig drehendes Plateau,.efta van Dinther hat mit keinem seiner Werke die Absicht, Antworten zu geben. Er stellt Fragen, lässt alles in der Schwebe und überlässt die Antworten dem Publikum. Van Dinther liebt das Dunkel, die Schatten, die Unklarheit, so beginnt auch Remachine im Dunkel mit einem Lied. Erst allmählich erhellt sich die Bühne ein wenig, eine sich im Uhrzeigersinn drehende Plattform wird sichtbar, fünf Menschen sitzen, lümmeln, hocken darauf und drehen sich mit. Sie sind dieser Zeitmaschine, dieser in einem Eismeer schwimmenden Insel, dieser gnadenlosen Maschine ausgeliefert. Sie können ihr nicht entkommen, wohin immer sie gehen, sie gehen im Kreis, kommen kaum vom Fleck, weil die Maschine bestimmt, dass sie kein Ziel erreichen. Sie sind müde, haben ihre Schuhe längst abgelaufen, tragen nur noch Fetzen um die Füße, dickes Leder schützen die Hände. Die Maschine muss geputzt werden, und wenn sie stehen bleibt, muss sie mit den Händen angetrieben werden. Stimmstark leitet die Sängerin die Vorstellung mit einem Lied ein, der Chor stimmt mit ein. Die fünf Menschen, die gegen die Zeit reisen, formen sich allmählich zu einer Gruppe, bewegen sich in einer Sequenz als einzige rhythmisch schwingende Welle.  Da löst sich der Stein in meinem Magen, vielleicht wird alles gut.
Irrtum. Verzweifelt klammen sich die Reisenden an den Rand der Plattform, die ihre Geschwindigkeit immer wieder ändert. Später fallen manche erschöpft zu Boden und werden von den Überlebenden wie Gegenstände abgeschleppt. Nur gemeinsam können die Menschen überleben: Alle fünf ziehen an einem Strang.
Die fünf Menschen können sich mit der drehenden Maschine nicht befreunden, wären da nicht die Musik, der Gesang und die sich in nahezu unerträglicher Langsamkeit bewegenden (tanzenden) Körper, Teile eines Ganzen, die miteinander verschmelzen. Einzelne Teile herauszustellen, ist dem Gesamtkunstwerk gegenüber ungerecht.
Der erfolgreiche Choreograf ist auch ein Zeitökonom, er weiß, wann alles gesagt ist und verzichtet auf Redundanz.
Ein tröstliches Bild: Fünf Tänzerinnen in Bewegung, das ergibt eine wogende Welle. Am Ende dominieren wieder die Stimmen. David Kiers, Komponist und langjähriger Mitarbeiter van Dinthers, hat leicht veränderte Songtexte zu einem Sound komponiert, der wie eine Umarmung schützt und Hoffnung gibt. Gemeinschaft kann helfen:  Die Gruppe wiegt sich zur Musik. Das Lied zu Beginn der Vorstellung: „I'm restless / I'm older / I'm heavy / Like a stone / Forgiven / Foresaken (sic) / I'm staring at my bones. “ Am Ende, als endloser Refrain gesungen: „… My sweet Faun. / My dear faun, oh my love. / Are we touching the magic? / Are we wearing the white angel’s glow? …/ [Als Refrain] Will we fall? / Will we fall where we fall? Will we fall? / Will we fall where we fall?“
Es sind lyrische Songtexte der schwedischen Musikerin Anna von Hausswolff, die, wie jedes Gedicht, kaum zu übersetzen sind, ohne dass Poesie und Charme verloren gehen. Ich versuche es trotzdem.

Jefta van Dinther: Remachine, 26., 27. Jänner 2024. Tanzquartier. Die Uraufführung hat am 1. September 2023 in der Oper von Umeå (Norrlandsoperan) / Schweden stattgefunden.
Choreografie: Jefta van Dinther. Kreiert und aufgeführt von: Brittanie Brown, Gyung Moo Kim, Leah Marojeviç, Roger Sala Reyner, Sarah Stanley
Licht: Jonatan Winbo; Kostüme: Cristina Nyffeler; Sound: David Kiers mit eigens komponierter Musik nach Ugly and Vengeful, Red Sun und The Truth, The Glow, The Fall von Anna von Hausswolff „Unearth“, vin Jefta van Dinther für einen sakralen Raum konzipiert., heuer in Krems zu sehen und zu hören.  Fotos: © Jubal Battisti, Elin Berge
Vorschau: Unearth, Körper und Stimme. Jefta van Dinther zeigt im heurigen Donaufestival seine meditative Performance mit zehn singenden Tänzerinnen / tanzenden Sängerinnen. Erstes Festival-Wochenende ab 19. April 2024