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Ballettabend: Schläpfer, Goecke, Balanchine

Marco Goecke: "Fly Paper Bird", eine Uraufführung.

Draußen hängen die Nebel, grau in grau, drinnen ist es auch nicht hell. Wolken dräuen auf dem HIntergrundprospekt, Zwielicht herrscht auf der Bühne. Der Donauwalzer erklingt, schwarzgekleidete Herren und Damen bewegen sich als würden sie die Musik nicht hören. Düster beginnt die Premiere des dreiteiligen Ballettabends in der Staatsoper mit der aufgefrischten Choreografie von Martin Schläpfer „Marsch, Walzer, Polka". Im Zentrum steht jedoch die Uraufführung von Marco Goeckes „Fly Paper Bird“, eine Choreografie, die einen nicht loslässt. Damit der die drei Stücke zusammenfassende Titel – „Im siebten Himmel“ gerechtfertigt ist, ist George Balanchines Ballet blanc „Symphony in C“ aus dem Repertoire vonnöten.

Sieht aus wie Volkstanz auf Spitze, ist aber der Walzer "An der schönen blauen Donau". Eröffnung des Abends also schwarz in grau mit Martin Schläpfers 2006 erstmals gezeigten Einfällen zu „Marsch, Walzer, Polka“. Für das Wiener Staatsballett hat Schläpfer Donauwalzer und Sphärenklänge, Radetzkymarsch und Annen-Polka um eine weitere Polka von Johann Strauß (Sohn), die „Neue Pizzicato-Polka“, ergänzt und von der Wiener Modedesignerin Susanne Bisovsky Kostüme und auch das Bühnenbild entwerfen lassen. Dass diese bunt gemusterten Strumpfhosen für Tänzerinnen und Tänzer, die Röcke mit russischem Rosenmuster und das Federkleid der zu „Sphärenklängen“ (Josef Strauß) herangaloppierenden schwarzen Schwäne von einer Meisterin gestaltet sind, ist zu sehen. "Neue Pizzicato-Polka": Die Männer versuchen, den Frauen (Adi Hanan, Sinthia Liz) die Beide auszureißen. Doch Kostüme sind nur eine Hülle, im Vordergrund steht der Tanz. Den garniert Schläpfer mit plumpen Witzchen und mühsamer Akrobatik, die Frauen bewegen sich wie mechanische Puppen und werden von den Männern malträtiert („Neue Pizzicato-Polka), herumgeschleppt und als Pferdchen missbraucht. Ein wenig mehr Sensibilität wäre da angebracht. In Solos, Duos und Trios hat man endlich Gelegenheit, die Tänzerinnen und Tänzer deutlich zu sehen, die sich in Schläpfers in bisher Wien gezeigten Choreografien in der Gruppe aufgelöst haben. Die Solistinnen, vor allem Sveva Gargiulo (Annen-Polka), Adi Hanan, Sinthia Liz (Neue Pizzicato-Polka), Corpstänzer Jackson Carroll als Pantomime im Radetzkymarsch. Eszter Ledán, Fiona McGee (Sphärenklänge) und gleich zu Beginn Ketevan Papava als dunkel-silbrig glänzende Walzerpuppe, tun ihr Bestes, lassen sich (bis auf Papava, die solo auf der Bühne Ist) mehr gefallen als erträglich scheint.
Den Lorbeer erobert Jackson Carroll, der im abschließenden Radetzky-Marsch eine feine Satire auf Generäle und Kriegsgetrommel, auf Korruption, Machthunger und Arschkriecherei bietet. Da rieselt es eiskalt über den Rücken. Endlich hat sich der Hintergrund der Walzer – Polka – Marsch-Bühne aufgehellt, die Wolken am grauen Himmel entpuppen sich als vom Wind gebeugte Bäume, eine romantische Landschaft wird sichtbar. Im hellen Licht leuchten auch die bunten Kostüme in frischen Farben. Ketevan Papava als Solistin im Donauwalzer. Im Zentrum des Abends fasziniert Marco Goeckes für Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts geschaffenes Ballett, „Fly Paper Bird“ zur Musik aus Gustav Mahlers Symphonie Nr. 5, cis-Moll. Goeckes ungewohnte, eindrucksvolle, packende Tanzsprache fordert die Tänzer:innen ebenso heraus wie das Publikum. Zwei Abschnitte aus der 5. Mahler – “Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ und das allgemein bekannte „Adagietto. Sehr langsam“ – hat Choreograf Goecke ausgewählt, um den Tanz zu begleiten. Kostümbildner Thomas Mika hüllt Frauen wie Männer in gleiche dunkle Hosen und helle Trikots für den Oberkörper. Der ist übersät mit Wunden, Narben, Tätowierungen, auf der Bühne herrscht Angst und Panik, die Arme fliegen, die Finger flattern, die Muskeln zittern, jeder Mensch ein schmerzerfülltes Bündel, gefangen im eigenen Körper. Die flirrenden Bewegungen gehen unter die Haut, die Tänzer:innen tanzen mit offenem Herzen, legen ihre Qualen an die Rampe und lassen mich ihre Verzweiflung spüren.
Marco Goecke: "Fly Paper Bird": Rebecca Horner flüsternd mit Daniel Vizcayo. Doch Goecke lässt das Publikum nicht in der Depression erstarren, er denkt an Ingeborg Bachmann und ihr Gedicht „Mein Vogel“. Dirigent Patrick Lange senkt den Stab, Stille tritt ein, atemlose Stille. Nur Rebecca Horner und Daniel Vizcayo stehen ineinander verschlungen an der Rampe, sie flüstert ihm die Worte Bachmanns ins Ohr. Wenn die Geigen wieder unters Kinn gehoben werden, die Bläser die Lippen spitzen, und das silbriges Flügelpaar im Hintergrund allmählich sichtbar wird, blüht Hoffnung auf.  Der silberne Vogel spannt weit seine Flügel aus, fliegt empor, ein letzter stummer Schrei, krampfhaftes stummes Gelächter, der Flügel steigt in den Himmel, die Tänzer:innen lockern die Schultern, sehen empor, wollen fliegen, raus aus ihrer Haut. Goecke und Lang (mit dem Staatsopernorchester) haben das Adagietto vom Odium schmalziger Filmmusik befreit, ein Werk erklingen lassen, wie es noch nie zuvor zu hören war. Adi Hanan und Fiona McGee, zwei Verletzte in Marco Goeckes jüngstem Stück "Fly Paper Bird".
Übrigens haben Wiener Ballettfreund:innen schon vor zehn Jahren Bekanntschaft mit der Tanzsprache von Marco Goecke gemacht. 2011, in seiner ersten Saison, hat Ballettdirektor Manuel Legris „Junge Talente“ in der Volksoper vorgestellt. Der 23jährige Neuzugang Masayu Kimoto hat damals das Solo „Mopey“ getanzt, das Marco Goecke für den amerikanischen Tänzer Peter Boal geschaffen hat. Kimoto hat damit die erste Sprosse auf der Wiener Karriereleiter erklommen. Seit 2017 ist er Erster Solotänzer.
Sein Talent ist auch im aktuellen Programm zu überprüfen: Im ersten Satz der „Smphony in C“ tanzt er mit der eben erst engagierten Hyo-Jung Kang den Solopart. Ein Vergnügen wie sämtliche vier Sätze dieses so heiteren, lockeren Balletts zur Musik von Georges Bizet. Einstudiert ist es wie schon früher von der „Balanchine-Botschafterin“ Patricia Neary, die noch bei Mister B. getanzt hat und alles, was sie in ihrem fotografischen Gedächtnis gespeichert hat, an Compagnien in aller Welt weitergibt. Dem Himmel so nah: Liudmila Konovalova, Alexey Popov im 2. Satz der "Symphony  in C".Mit den herausragenden Solist:innen Liudmila Konovalova / Alexey Popov, Kiyoka Hashimoto / Davide Dato, Sonia Dvořák / Roman Lazik in den Sätzen zwei bis vier harmonieren die anderen Solopaare und das präzise tanzende Corps. Im dritten Satz zeigen Ioanna Avraam mit Géraud Wielick sowie Anita Manolova und Edward Cooper wahre Tanzseligkeit, Im Finale der "Symphony in C": Die Solisten Masayu Kimoto, Davide Dato, Alexey Popov, Roman Lazik.Freude leuchtet auf allen Gesichtern während sich an die 50 Tänzer:innen zum mitreißenden Finale versammeln.
Doch das Publikum will das Ensemble nicht von der Bühne lassen, immer wieder werden Solist:innen und das Corps hervorgeholt, immer wieder muss der Vorhang hochgehen, Dirigent Patrick Lange, der sich hörbar mit Mahler und Bizet leichter tut als mit Wiener Walzer und Polka, wird auf die Bühne geholt und in den Applaus einbezogen.
Per aspera ad astra! Schmerz und Angst sind notwendig, damit die Sterne erreicht werden. Der Anschein trügt: Goecke und Balanchine harmonieren besser miteinander als erwartet.

„Im siebten Himmel“, dreiteiliger Ballettabend mit Choreografien von George Balanchine, Marco Goecke und Martin Schläpfer. Orchester der Wiener Staatsoper, geleitet von Patrick Lange.
„Marsch, Walzer, Polka“, Choreografie Martin Schläpfer; Bühne & Kostüme Susanne Bisovsky; Licht Robert Eisenstein. Musik von Johann Strauß Vater, Johann Strauß Sohn und Josef Strauß.
„Fly Paper Bird“, Uraufführung. Choreografie Marco Goecke; Bühne & Kostüm Thomas Mika; Licht Udo Haberland.
Tänzer:innen: Sveva Gargiulo, Adi Hanan, Rebecca Horner, Fiona McGee, Davide Dato, Lourenço Ferreira, Marcos Menha, Kristián Pokorný, Duccio Tariello, Arne Vandervelde, Daniel Vizcayo.
Fotos: © Ashley Taylor
Premiere: 14.11.2021, Wiener Staatsballett in der Staatsoper. Kommende Vorstellungen:18., 20., 25. November 2021.