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Michael Turinsky: Precarious Moves, online + live

Michael Turinsky, Tänzer mit prekären Bewegungen

Unterfüttert mit Humor und garniert mit schelmischen Blicken monologisiert Michael Turinsky in seinem jüngsten Solo „Precarious Moves“ im Tanzquartier über die Möglichkeiten der organisierten Bewegung, also der Choreografie, wenn dem Körper Grenzen gesetzt sind, er nicht so will, wie es sich der Choreograf oder Tänzer vorstellt. Erst im dritten Teil macht er in einer ruhig fließenden Choreografie die Probe aufs Exempel. Der verdiente Applaus kommt aus dem Off, Turinsky ist mehr als eine Stunde auf sich gestellt, allein im großen Saal auf dem weißen Bühnenteppich. Drei Tage lang, vom 8. bis 10. Jänner 2021, ist das Video online zu sehen.

Michael Turinsky erzählt, philosophiert und stellt Fragen. Screenshot aus dem VideoPremiere war am 8. Jänner, wer keine Zeit hatte, Turinsky zuzuhören und zu sehen, hat danach noch zwei Tage Gelegenheit, die Performance auf tqw.zu sehen.
Anfangs kommt er mit acht Rädern auf die Bühne, im Rollstuhl sitzend schiebt er einen Barwagen vor sich her, begrüßt das unsichtbare Publikum und beginnt mit einer Einleitung über die Themen, die ihn interessieren, bis er beim Hauptthema, seine körperlichen Beschränkungen, die einen üblichen Bewegungsablauf kaum erlauben, angelangt ist. Immer wieder stellt er auch dem fernen Auditorium seine Fragen, auch wenn er weiß, dass es keine Antworten gibt. Als er sein Solo mit viel Text und auch Bewegung konzipierte, hat er an seine treuen Fans gedacht – die sind durch Corona ebenfalls in ihren Bewegungen eingeschränkt. Auch die Tanz- und Performancefreundinnen sollen ihre Wohnungen möglichst nicht verlassen. In der Schüssel segelt ein Papierschiffchen. Turinsky sorgt für den Wind  © M. LoizenbauerDer englische Text wird auf eine ausgerollte Leinwand projiziert, doch die Kameraposition erlaubt es meist nicht, ihn zu sehen, nur Satz- und Wortfetzen kann ich lesen.
Macht nichts, der Titel allein und die Kenntnis des auch international auftretenden Tänzers helfen beim Mitdenken der Statements und Fragen.
Begleitet von seinem Monolog baut Turinsky im 1. Akt die Schienen für eine kleine Eisenbahn zusammen, stellt die grünen Bäumchen auf, legt Tunnels und Brücken an. Kein Kinderspiel: Die Schienen für die Eisenbahn werden zusammengekoppelt. © Screenshot / LoizenbauerSchon weiß man, dass der Körper sich dem Geist widersetzt. Turinsky beweist Geduld und gibt nicht auf, lenkt seine Bewegungen nach seinem Vermögen. Wie eine Belohnung wirkt der zweite Akt: die Bühne ist in rotes Licht getaucht, rot ist auch das schnittige Kinderkabrio, in dem Turinsky auftaucht, Freude und Lustgefühl vermittelt. während er singend die Bühne umrundet. Er steigt aus und zählt auf, was er fühlt: „Ich segle, ich fliege, ich krieche und tauche, …, ich brenne, ich kann stehen. – I‘m a Man, I can!“ Das fröhliche Kurven um die Bühne will kein Ende nehmen, Michael Turinsky will kein Ende finden. Erst wenn der Sprit ausgeht, gibt er auf. Michael Turinsky als Herrenfahrer im roten Cabrio. © Screenshot / Video Michael Loizenbauer
Und im dritten Akt beglückt Michael Turinsky mit seiner Choreografie mit schmiegsamen Bewegungen. Im grünen Schein bewegt er sich vorsichtig, beugt und dreht den Rumpf, hebt die Arme, richtet sich knieend auf, rollt dann wieder langgestreckt auf dem Boden, steuert auf den Triumpf zu: Er steht auf, quert mit vorsichtigen Schritten die Bühne. Michael Turinsky tanzt.
Er kann! Ist Tänzer, Performer und Schauspieler und trifft mit seinen Bewegungen die Zuschauerin ins Mark. So nah wie in einer Videoaufzeichnung ist man live im Saal niemals, was die Aufführung an Atmosphäre und Applaus verloren hat, hat sie an Intensität gewonnen. Ich spüre Turinskys Bewegungen in meinem Körper. Michael Turinsky tanzt: "Yes, I can." © Scrennshot / Video M. Loizenbauer Das Jammern über das Corona bedingte Gefängnis muss verstummen. Der Lockdown hat einen Anfang gehabt und er wird eine Ende haben.
Turinsky rollt in seinem eigenen Gefährt noch einmal auf die Bühne, nimmt den eingespielten Applaus entgegen, verbeugt sich vor dem unsichtbaren Publikum. Ein gelungener Auftritt im ungewohnten Medium. Die Übung ist gelungen.
Zehn Monate später holt Turinsky die Live-Premiere seiner Premiere im Tanzquartier-Studio nach. Welch ein Unterschied zwischen einer Online-Übertragung und der unmittelbaren Kommunikation zwischen dem Künstler auf der Bühne und dem Publikum in den Reihen. Das Stück "Precarious Moves" ist das Gleiche wie damals im Jänner auf dem Bildschirm, doch es ist nicht dasselbe. Turinsky kann im Angesicht des Publikums auf dieses, dessen Lachen, Schmunzeln, Schweigen und Zustimmen reagieren und, weil es im bis auf den letzte Platz gefüllten Studio vor allem um freundliche Zustimmung geht, sich daran erfreuen. Michael Turinsky baut eine hölzerne Eisenbahnanlage auf. Nicht, um zu spielen, sondern um zu arbeiten. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass eine Liveperforamnce mehr Aufmerksamkeit fordert und natürlich auch mehr Sitzfleisch als die Onlineübertragung. Dass  Bühnenkünstler:innen ihre Arbeit fertigstellen können und es befriedigender ist, sie vor der Kamera im sonst leeren Raum zu spielen (Turinsky weiß wenigstens, dass man, um die unsichtbaren Zuschauer:innen anzusprechen, in die Kamera schauen muss und nicht in die leeren Sitzreihen glotzen darf), als das fertige Werk einfach in die Schublade zu legen, ist verständlich, und so ein gespeicherter Stream kann im Archiv der Flüchtigkeit einer Bühnenpräsenz widersprechen. Doch mit dem Erlebnis auf der Bühne und im Saal kann die Konserve (auch der Live-Stream ist nichts anderes, noch dazu unbearbeitet, das Medium ist immer dazwischen) nicht mithalten.
In "Precarious Moves" geht es um die Choreografie, die für den behinderten Michael Turinsky etwas ganz anderes bedeutet als für gesunde, bewegungsfreie Menschen. Doch er braucht auch diese, damit sie ihm Gehör und Blicke schenken und an seiner Kunst teilnehmen. Er kann seine Möglichkeiten der Bewegung und der Darstellung mit den Möglichkeiten des Publikums, ihm die Zeit und den Raum dazu zu lassen, vereinen. "I can" ist der Schlussrefrain eines von ihm gejubelten Gedichtes, das er, als glückliches Kind im roten Elektroauto die Bühne umkreisend, sich selbst und dem Publikum entgegenruft. Er kann!  Mit seinen Möglichkeiten einen formvollendeten Abend gestalten, der Freude bereitet, Erkenntnisse vermittelt und den spontanen ehrlichen Applaus verdient.

„Precarious Moves“, Konzept, Choreografie, Performance, Text: Michael Turinsky.
Musik & Text: Tian Rotteveel; Bühne & Kostüme: Jenny Schleif; Licht: Sveta Schwin. Foto, Video, Kamera: Michael Loizenbauer; Kamera: Kurt van der Vloedt (Artvan). Online Premiere am 8. Jänner 2021, auf tqw.at .
Live Aufführungen im Tanzquartier Studio, 12. und 13. November 2021.