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Dirigieren ist ein Pas de deux mit dem Ensemble
Der Taktstock muss aus Gold sein, so liebevoll hält ihn der Maestro, so vorsichtig behandelt er ihn. Seine Bewegungen zeigen Eleganz und Stil eines Gentiluomo. Die Mode und der gute Stil sind nicht der entscheidende Punkt, Luciano Di Martino ist Dirigent. Mit oder ohne Taktstock, doch mit Herz und Hirn. Als musikalischer Leiter hat er mit dem Ballett Giselle die aktuelle Ballettsaison in Wien eröffnet und auch als Dirigent von Walzer und Polka Roland Petits „operette dansée“ begleitet.
Zum Gespräch eilt er aus dem Ballettsaal im sechsten ins Café im Parterre. Eine neue Besetzung ist für Die Fledermaus angesetzt, Joanna Avraam wird die Bella tanzen. Für Di Martino eine Selbstverständlichkeit, die Solisten- und Ensembleproben konzentriert zu beobachten. Nur so, meint er, sei der Pas de deux des Dirigenten dem Ensemble möglich. Auf dieses Verschmelzen von Musik und Tanz legt Di Martino großen Wert. Das Publikum und die Kritikerinnen honorieren das. „Das ist für mich Kunst, mit allen anderen zusammen eine Brücke zum Publikum zu schlagen.“ 
Die neue Wiener Ballettdirektorin Alessandra Ferri hat Luciano Di Martino vor einigen Jahren, in Hamburg kennen und schätzen gelernt. In John Neumeiers Ballett Duse hat sie die Titelrolle, die Schauspielerin Eleonora Duse, getanzt, Di Martino stand dem Orchester vor. Nun hat sie den Maestro nach Wien eingeladen, am 18. Oktober hat er sein Hausdebüt gefeiert und das Publikum hat ihn mit Enthusiasmus gefeiert.
Wenn Luciano Di Martino spricht, klingen die Wörter Deutsch, doch die Melodie ist Italienisch. Leicht zu erklären: Die Mutter ist Deutsche, der Vater Italiener, genau das, was zu vermuten ist: Sänger, ein Tenor, der in der Oper Cavaradossi und Rudolfo gesungen hat.
Der kleine Luciano ist nicht nur im Kinderzimmer, sondern auch in den Opernhäusern aufgewachsen. Schon ab dem Volkschulalter saß er am Klavier. Natürlich wollte er Pianist werden. Doch die große Karriere sagte dem Buben niemand voraus. Schnell hat ihn ein neues Ziel gelockt, als er in Kontakt mit berühmten Dirigenten kam und sich selbst für das Dirigieren eines Orchesters begeisterte. Wann und wo es ging, trieb sich der heranwachsende Luciano in der Nähe von Dirigenten herum, amüsierte sie mit seinen neugierigen Fragen.
Der mentale und emotionale Zugang zur Musik war ihm gegeben, das Handwerk des Dirigenten erlernte er Mitte der 1990er Jahre an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, den letzten Schliff verpassten ihm die Lehrer an der Accademia Chigiana in Siena. Auch vom legendären russischen Dirigenten und Theoretiker der Ilja Alexandrowitsch Mussin (1903–199, englisch transkribiert als Ilya Musin Die Kunst des Dirigierens ) wurde er unterrichtet. Wie der junge Teodor Currentzis besuchte er Mussins Meisterkurse.
So gut ausgerüstet und von Natur aus einfühlsam, machte Luciano Di Martino schnell Karriere als Orchester- und Operndirigent. Bald wurde er weltweit für „seine Intensität, Spontaneität, Präzision, Ausdruckssinn und unverwechselbare Musikalität“ gelobt. Es ist keine Überraschung, dass Di Martino ein Blick in die Partitur genügt, um die Musik zu hören. Noch gibt es nur Noten auf Papier, der Dirigent hat sein Orchester im Kopf. 
Und dann begegnet er dem phänomenalen Choreografen John Neumeier, der ihm die Welt des Balletts öffnet und die hohe Kunst des Dirigierens von Musik zu aller Art von Bühnentanz, klassischem und neoklassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz, mit entsprechender Komposition, schmackhaft gemacht hat. Seit bald 20 Jahren ist er regelmäßiger Gast an der Hamburger Staatsoper, dirigiert Oper ebenso wie Ballettaufführungen. Begeistert erzählt er, wie ihm Neumeier Augen, Ohren und Herz für das Ballett geöffnet hat.
„In den letzten 15 Jahren habe ich mich dem Ballettrepertoire beschäftigt. Ballettmusik dirigieren ist schon etwas anderes als ein Symphoniekonzert oder auch Oper.“ Im Konzertsaal, erzählt Di Martino, „kann ich direkt in die Musik hineinfallen. Es entsteht eine Einheit zwischen dem Orchester, der Musik und mir. Ich genieße nicht nur das Dirigieren, sondern auch die Musik, das Konzert.“ In der Oper, wo gesungen oder getanzt wird, muss sich der Dirigent auch auf das Bühnengeschehen konzentrieren. „In Opernaufführungen muss ich wissen, welches Tempo die Sängerinnen und Sänger haben. Im Rahmen der Idee des Komponisten kann ich mein Tempo anpassen.
Beim Ballett ist es so, dass sich die Musik unterordnen muss. Selbstverständlich wird ein intelligenter Choreograf – zum Beispiel der geniale Neumeier, mit dem habe ich jetzt 13 Jahre zusammenarbeitetet – seine Choreografie sehr gut an die Musik anpassen. Er respektiert, was der Komponist vorgeschrieben hat und ändert, wenn überhaupt, nur Kleinigkeiten. Würde er seine Choreografie nicht im Einklang mit der Musik schaffen, entstünde eine Unstimmigkeit.“
Gerne erinnert sich Di Martino an die Aufführung von Neumeiers Märchenballett Die kleine Meerjungfrau, die er 2014 dirigiert hat. „Die zeitgenössische Musik von Lera Auerbach ist zugleich mit der Choreografie entstanden. Das heißt, die beiden, der Choreograf und die Komponistin, waren miteinander in einem unaufhörlichen Dialog. Choreografie und Komposition entstanden in gemeinsamer Arbeit.“ 2017 ging Di Martino mit dem Hamburg Ballett auf eine Tournee nach Washington, wo Die kleine Meerjungfrau ebenfalls gezeigt worden ist. 2021 kam er zu einer besonderen Ehre, er durfte die Festvorstellung zum 50-jährigen Jubiläum von Neumeiers Choreografie des klassischen Balletts Der Nussknacker zu Musik von P. I. Tschaikowski dirigieren.
„Das ist das Geniale an den guten Choreografen, es entsteht ein Zauber. Zauber kann nur entstehen, wenn Musik mit dem Tanz eins ist. Deshalb kann ich als Dirigent im Orchestergraben Musik nicht so interpretieren, so wie ich möchte. Ich muss mich schon an den Choreografen anpassen“, sagt er bescheiden und sichtbar einverstanden damit. Am Ende des Gesprächs, in dem der Deutsch-Italiener durch plastische, auch poetische Bilder seine Musikalität und den Zugang zur Sprache und beweist, stellt er eine Frage: „Was halten Sie von Ballett zur Musik großer Sinfonien?“ Antwort wird keine erwartet.
Der internationale Dirigent Luciano Di Martino ist in Wien als Ballettdirigent angekommen. Mit den Aufführungen von Giselle und Die Fledermaus, hat er seinen Einstand gefeiert. Zwischen Probe und Abendvorstellung spricht er über seine Leidenschaft.
Fotos: © Kiran West, Holger Badekow, Ashley Taylor
Die Fledermaus, letzte Vorstellungen in diesem Jahr: 8.12. Nachmittag und Abend + 13.12.2025