Skip to main content

Grete Wiesenthal inspiriert den aktuellen Tanz

Drehen, Kippen, Tanzen macht auch in schwierigen Zeiten glückselig.

Die Tänzerin Grete Wiesenthal (1885–1970) hat sich mit ihrer speziellen Tanzsprache von den Zwängen des klassischen Balletts befreit und im Walzertakt in die Glückseligkeit getanzt. „Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung“ nennt die Tanzhistorikerin Andrea Amort ihr jüngstes Projekt, mit dem die Vergangenheit in die Gegenwart geholt wird. Im Vorfeld der kommenden Tanzpremiere im brut hat das Team um Amort und deren Verein Lebendiges Tanzarchiv Wien Einblicke in seine vielfältige Recherchearbeit zu Grete Wiesenthal, der Patin der Arbeit, gegeben.

 Schweben und Schwingen im Walzertakt nach Grete Wiesenthal: Eva-Maria Schaller und Rebekka Pichler .Drehen und schwingen, nach hinten kippen, bis die Augen gegen den Himmel gerichtet sind. Nicht fallen. Schon kleine Kinder können diesen Schwindel nachempfinden, wenn sie sich unaufhörlich um die eigene Achse drehen. Vor dem Fallen werden sie meistens nicht bewahrt. Vier Tänzerinnen der aktuellen freien Szene geht es offenbar ebenso, sie versuchen, im Dreivierteltakt zu tanzen, es Grete Wiesenthal nachzutun. Doch das ist nur das private Vorprogramm, um selbst diesen Rausch zu erleben. Im Rahmen der Arbeit im Lebendigen Tanzarchiv Wien versuchen Amort und die vier Tänzerinnen (Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller, Katharina Senk) zu erforschen, welchen Stellenwert die tanzhistorische Vergangen für das performative Heute hat. Sie möchten „in der von Zeitschichten und unterschiedlichen Arten der Weitergabe überlagerten Tanzweise ,das Eigentliche’ zu finden und es auf seine aktuelle Wirkung und Möglichkeiten einer kreativ-kritischen Weiterführung zu testen. Kein Museum wird da gebaut, sondern der Zugriff auf Geschichte wird lebendig.“, sagt Andrea Amort, die sich seit vielen Jahren mit den Themen „Tanz und Exil und Tanz-Erbe“ befasst. Zweimal solo im Walzertakt: Eva-Maria Schaller, Rebekka Pichler.Zu diesem Themenkreis hat sie Festivals geleitet, etwa 2008 „Beyond the Waltz“ in Washington, zahlreiche Publikationen verfasst und die erste umfassende Zusammenschau zum Thema des Modernen Tanzes in Wien bis 1938 und den Folgen organisiert und kuratiert. „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, hat das interessierte Publikum und auch Schüler:innen 2019 ins Theatermuseum gelockt. Der  umfangreiche Bildband ist unter dem gleichen Titel im Hatje Cantz Verlag erschienen. Vier vom Drehen und Schweben müde Sylphiden.Die vier Tänzerinnen haben sich intensiv mit dem Werk Wiesenthals beschäftigt. Im Rahmen der Schiene „handle with care“ erzählen die Tänzerinnen im brut, wie sie sich mit Wiesenthals Tanzweise auseinandergesetzt haben. Sie mussten sich die spezielle Tanzsprache aneignen und dennoch sie selbst und im Heute bleiben. Wiesenthal soll nicht nachgeahmt werden, die Tänzerinnen choreografieren als Erbinnen von Grete Wiesenthal.  
Um dem Publikum Wiesenthals Bewegungskatalog zu vermitteln, werden anfangs einige Übungen gezeigt, mit denen die Wiesenthal-Tänzerinnen ihren Körper trainiert haben. Die vier Tänzerinnen erzählen auch über ihren persönlichen Zugang zur Tanzsprache, die mit der eigenen Schwungtechnik vor mehr als 100 Jahren Furore gemacht hat. Wiesenthal, die 1905 zur Koryphäe (heute: Erste Solotänzerin) des Wiener Hofopernballett ernannt worden war, verzichtet auf ihre weitere Karriere als klassische Tänzerin, verliäßz das Hofopernballett und gründet 1908 mit ihren Schwestern Elsa und Bertha eine freie Tanzgruppe. Ab 1912 leitet sie ihre eigene Tanztruppe und eröffnet 1917 eine Tanzschule in Wien.Schwingend und schwebend, nicht nur die Tänzerinnen, auch die Kostüme von awareness & consciousness.
Das Lebendige Tanzarchiv Wien kommt nicht ohne Helferinnen aus. So hat Jolantha Seyfried, ehemalige Erste Solotänzerin des Wiener Staatsopernballetts, Professorin für Tanz an der MuK, hat Einblick in das überlieferte Tanz-Repertoire von Grete Wiesenthal gegeben. Anita Kidritsch hat Unterricht in der Tanzweise von GW gegeben und die ehemalige Solotänzerin im Staatsopernballett Susanne Kirnbauer hat mit dem Quartett das originale Solo von Wiesenthal „Wein, Weib und Gesang“, zur Musik von Johann Strauß (Sohn) einstudiert. In ihrer aktiven Zeit hat sie diesen Wiesenthal-Walzer selbst in der Staatsoper gezeigt. Ehemalige Wiesenthal-Tänzerinnen studierten mit ihr das auch beim Zuschauen schwindlig machende Solo ein. Kirnbauer hat davon in der Zeitschrift der Opernfreunde, Stretta / November 2019, erzählt:

Fordernde Proben, gehalten unter einemunerbittlichen Kommando ehemaliger Wiesenthal-Schülerinnen, von Vilma Kostka und Erika Kniza, sind mir in Erinnerung! Es war sehr bald klar, dass es zwar einer klassischen Basis bedurfte, viele Bewegungen aber völlig anders und ungewohnt waren! Je mehr ich diese so andere Technik beherrschte, umso glücklicher machte mich dieses ‚Geschenk’! Diesen Walzer zu tanzen, bedeutete im Laufe vieler weitere Vor-stellungen Lebensfreude, Wien und Seligkeit! Tänzerinnen haben keine Berührungsängste: Katharina Senk, verdeckt von Rebekka Pichler.

Da ist sie wieder, die Seligkeit, die Andrea Amort in den Titel der „Aneignung“ gesetzt hat. In der Aufführung wird nur der genannte Walzer als Original-Solo zu sehen sein. Alle anderen Performances sind Choreografien der Tänzerinnen, inspiriert von Wiesenthals Technik und ihr Bewegungsrepertoire oder indem eine persönliche Choreografie zu von Grete Wiesenthal verwendeter Musik entstanden ist. In jedem Fall steht ein spannender, erkenntnisreicher Abend bevor. Und wenn eine oder andere (die Tanzgruppe Wiesenthals bestand aus Frauen) eine Ahnung vom Glückstaumel verspürt, dann ist das beabsichtigt.

Handle with Care, 17. März 2023, brut nordwest
Lebendiges Tanzarchiv Wien: Einblicke in die Premiere „Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung“ am 30.3.2023.
Mit Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller und Katharina Senk, Choreografie und Tanz.
Konzept und Dramaturgie: Andrea Amort und Inge Gappmsier.
Lebendiges Tanzarchiv Wien: „Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung“ 30., 31. März, 1. April 2023, brut nordwest.
Fotos. Natali Glišić. Kostüme: awareness & consciousness