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John Cranko: „Onegin“ – Getanzte Gefühle

Adrian Volkov: Das Duell. 1869. © wiki, free license

Auch Manuel Legris muss John Crankos „Onegin“ lieben. Nahezu dreißig Mal bescherte er dieses Feuerwerk der Emotionen nach dem Versroman von Alexander Puschkin dem immer wieder entzückten Ballettpublikum. Mit den Spitzentänzer*innen des Wiener Staatsballetts, Solist*innen und Corps, hat sich Vergnügung, Aufregung und Erschütterung jedes Mal verdoppelt. Die Vorstellung am 17.1. ist auch vom Publikum als besonders geglückt empfunden worden.

Tatjana zaubert sich den Angebeteten herbei: Nina Poláková mit Robert Gabdullin (Onegin).Kaum eine Choreografie hat sich so lange in der Originalfassung gehalten wie Crankos Ballett über Eugen Onegin und Tatjana Larina, Lenski und Olga Larina: Mehr 40 Jahre. Und immer noch sind die handelnden Personen voller Leben, ihre Gefühle unterscheiden sich nicht von den Gefühlen der Zuschauer*innen. Nach der insgesamt 53. Vorstellung (gezählt nach der Premiere am 8. April 2006 unter Direktion Gyula Harangozós. Dafür sollte man ihm wenigstens dankbar sein.) am 26. Jänner wird für wohl für einige Zeit Schluss sein mit Liebe und Eifersucht, Hoffen und Flehen und dem Knall der Pistole. Manuel Legris verlässt seine Compagnie, nicht ganz freiwillig. Vielleicht kann bis zur nächsten Aufführungsserie, die muss kommen, zu wichtig ist dieses Ballett, die Ausstattung erneuert werden, wie es bereits manche Compagnie bereits gemacht habt. Cranko bleibt aktuell und unangetastet, Elisabeth Daltons Prunk und Pomp ist bereits aus jeglicher Zeit gefallen und ziemlich angestaubt. Noch springt Lenski (Davide Dato) fröhlich seiner Olga entgegen. Bald wird die Eifersucht geschürt. Doch hat man so starke Tänzer*innen auf der Bühne wie in Wien, schenkt man dem Vorhangwallen ohnehin keinen Blick.

Im sechsteiligen Reigen tanzten Solist*innen, die ihre Rolle bereits kennen und sie so von Vorstellung zu Vorstellung verfeinern und vertiefen konnten. Lediglich in den zwei letzten Vorstellungen, am 23. und 26. Jänner, wird es zwei Debüts geben: Jakob Feyferlik hat den Dichter Lenski einstudiert, Madison Young seine Braut Olga. Roman Lazik und Ketevan Papava tanzen das Hauptpaar, Onegin und Tatjana.

Eni Peçi ist ein eher sensibler Onegin, Nina Poláková eine Bilderbuch-Tatjana.Wenn überhaupt Kronen verteilt werden sollen, dann gebührt die bestpolierte Nina Poláková, die vier Mal als Tatjana zu Tränen gerührt hat. Ihre Gefühlspalette spiegelt sich nicht nur im Gesicht, sondern in jeder Bewegung wider, sie ist jung und verträumt, sehnsuchtsvoll verliebt und zugleich voller Angst; nach der rüden Zurückweisung durch den Angebeteten zeigt sie eine beleidigte Miene, die den um sie werbenden General (Alexis Forabosco) zutiefst verwirrt. Er weiß ja nicht, dass er sie ohnehin bekommt und sie eine würdige, angepasste Gattin und treusorgende Hausfrau sein wird. Tatjana ist im ersten Akt noch ein Backfisch, wie der Übersetzer des Versromans es ausdrückt. Keine Überraschung, dass das Mädchen aus der Provinz auf die scheinbare Exklusivität des Dandys aus der Stadt hereinfällt. 
Wenn Tatjana sich im weiten Bild des 1. Aktes den Mann ihrer Träume im Schlafzimmer herbeizaubert, zerfließt Poláková förmlich vor Liebesglück. Selig träumend schmiegt sie sich in die Arme Onegins, der für meine Begriffe etwas mehr Hingabe zeigen dürfte. Robert Gabdullin (Rollendebüt am 8.1., 2.Vorstellung am 17.1.) ringt sich ein zaghaftes Lächeln ab, bleibt aber der Snob, den er bei seinem Besuch auf dem Land großartig mimt. Denys Cherevychko in seinem Element als Lenski: Fröhlich zu Beginn, wütend am Ende.Eno Peçi, der seinen eigenen Onegin gestaltet und damit dem Charakter, den Puschkin für seinen Antihelden entworfen hat, sicher näherkommt, zeigt eine differenzierte Figur. Allerdings ist der Solotänzer bereits auf dem Weg zu einer choreografischen Karriere, ist auch mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (und einigen Ehrungen seiner Heimat Albanien) ausgezeichnet worden, und schien mir vor allem in der Traumszene nicht ganz bei der Sache zu sein.

Puschkin schildert Eugen Onegin nicht gar so empathielos und widerlich, wie er mir bei Cranko scheint. Natascha Mair, perfekt als leichtlebige Olga (mit Denys Cherevychko). Der russische Nationaldichter (1799–1837) beschreibt ihn als „unnützen“ Menschen, der genügend Geld hat, um sich zu langweilen, Frauen nur zu seinem Amüsement benützt, doch dazu ist ihm Tatjana, der er, als er sie lesen sieht, auch Bücher leiht, zu schade. Nachdem er den Brief gelesen hat, ist er

ernst bewegt, von dieses Kindes reinem Wesen im tiefsten Innern aufgeregt. Er sah die kummerbleichen Wangen, ihr bittend Auge, florumfangen _ Und fühlte, wie ein süßer Bann in seiner Seele Macht gewann. Vielleicht war alte Sinnenliebe vorübergehend nicht im Spiel – Doch sträubte sich sein Ehrgefühl vor Mißbrauch keuscher Undschuldsliebe.

Diese Zeilen lassen den eitlen Schnösel doch in einem etwas milderen Licht erscheinen. Während sowohl Puschkin wie auch sein Onegin bereits im 18. Jahrhundert leben, ist Tatjana samt ihrer Familie ein Kind des 17., am Land erobert man das neue Jahrhundert nicht im Sprung. Puschkin macht sich selbst auch ein wenig lustig über das naturliebende Mädchen, das sich in Abenteuer- und Schauerromane, wie sie vor allem in England in Mode waren, vertieft hat und davon träumt, eine dieser Heldinnen zu sein. Aber sie spricht, wie die besseren Leute, Französisch:

Ihr Russisch konnte wenig gelten … Und schrieb drum, weil sie offenbar, des Heimatlauts nicht mächtig war, Französisch – … Die eigne Sprache, stolz und tief, ist noch verpönt beim Liebesbrief.Onegin im Ankleidezimmer, gelangweilt vom Leben. Buchillustration. © wikipedia, free license

Nicht vergessen, Puschkin ist zum Nationaldichter geworden, er gilt als der erste russische Literat, hat er doch seine eigene Literatursprache geschaffen. Sämtliche Berühmtheiten sind jünger als er und natürlich von ihm beeinflusst.

Cranko aber schuf seine eigenen Figuren, legt das Brennglas über den Versroman und setzt die Gefühle der Protagonisten in Tanz um. Puschkin nimmt Onegin nur als Modell für eine bestimmte Gesellschaftsschicht und des russischen Lebens überhaupt. Viele Strophen widmet er auch dem Landleben, beschreibt dessen Aberglauben und beibehaltene alte Riten. Cranko erinnert daran mit der kurzen Szene im 1. Akt, wenn die Mädchen im Spiegel nach ihrem künftigen Mann suchen, und auch die Nachtszene, in der Tatjana Onegin aus dem Spiegel steigen sieht, ist eigentlich einer Geistergeschichte, wie sie am Land auch in Europa noch üblich ist.

Debakel für Onegin (Peçi): Die gereifte Tatjana (Poláková) weist ihn ab. Vernunft siegt über Emotion. Auch der rasende Zorn Lenskis erklärt sich bei Puschkin deutlicher. Es ist nicht die Eifersucht, die ihn so zornig macht, weil Onegin aus Langeweile (und wohl auch Verlegenheit, weil er Tatjana so schnöde behandelt hat), mit seiner Braut anbandelt und die, auch von Puschkin als leichtlebiges Mädchen geschilderte, Schwester der ernsthaften Tatja, gar nicht genug vom ausgelassenen Tanz bekommen kann, sondern schwer gekränkt ist er, weil Onegin sich weigert, seine Gedichte zu lesen. In dieser Serie waren Denys Cherevychko und Davide Dato als Lenski zu sehen. Cherevychko ist ein Rasender, wenn er seinem Freund die Handschuhe vor die Füße wirft und ihm die Ohrfeigen ins Gesicht knallt. Der Dandy aber muss sich nicht unbedingt duellieren, er kommt nur nicht aus, Lenski besteht darauf. Cherevychko ist weniger Dichter als glücklicher und später gedemütigter, eifersüchtiger Bräutigam, der nicht mehr verzeihen kann und in seinem verletzte Stolz zu weit geht. Davide Dato tanzt einen feinfühligen Poeten, dessen Wut auf Onegin und auch auf Olga sich kalt und niemals endend anfühlt, doch wenn er im Mondenschein ein letztes Gebet tanzt, möchte ich hoffen, dass diesmal die Pistole Onegins nicht losgeht. Keine Gnade, die Romantiker müssen früh sterben.Einstweilen noch ein glückliches Paar: Olga und Lenski (Nikisha Fogo, Davide Dato).

In diesem Sinne war auch Puschkin auch einer und ein Hellseher dazu. Man kann es sich ausrechnen, er ist nur 38 Jahre alt geworden und gestorben wie sein Lenski, durch einen Schuss bei einem Duell. Auch der Grund für diese Auseinandersetzung mit dem französischen Offizier Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès ist Lenski nachgeahmt: D’Anthès machte nämlich, Onegin gleich, Natalja Puschkina, der Gattin des Dichters, allzu auffällig und beständig den Hof, obwohl er mit Nataljas Schwester verheiratet war. Eifersucht, verletzter Stolz, letztes Gebet, Bauchschuss und aus.

Tatjana ist eigentlich nur eine Episode in Onegins Leben, die dieser zwar nach zehn Jahren wieder aufwärmen will und ihr, ähnlich schwärmerisch wie einst Tatjana ihm, einen Brief schreibt. Schöne Worte machen können sie, diese Egozentriker.Denkmal für den Nationaldichter Alexander Puschkin in St. Petersburg. © wikipedia, free ficense Doch wer glaubt dem Schauspieler, der sich (nach Puschkin) seine jeweilige Rolle bewusst zurechtlegt, dass er plötzlich echte Gefühle verspürt? Tatjana tut recht daran, sich von seinem Wimmern und dem Herumrutschen auf den Knien nicht rühren zu lassen. Sie ist nicht Anna Karenina (die betritt erst 40 Jahre später die Bühne der Literatur), sie bleibt beim Gatten und weiß hoffentlich in tiefsten Inneren, dass sie mit dem Hohlkopf nicht glücklich geworden wäre. Der Roman endet auch, was die misslungene Liebe (sie zu früh, er zu spät) betrifft, offen. Onegin zieht betrübt ab, Tatjana wartet, dass ihr General gesund aus der Schlacht zurückkehrt.

Cranko legt in diese Abschiedsszene pures Gefühl hinein, Tatjana ist hin und her gerissen und Gabdullin oder Peçi krümmen sich zu einem Häuflein Elend, nur wenn sie die plötzlich Geliebte in den Himmel heben, strahlen ihre Gesichter. Triumphierend? Vergeblich. Die Hausfrau bleibt treu und sorgend.Noch einmal fühlt sie Liebesglück, doch die Ehe mit Gremin ist auch eine sanfte Fessel. (Poláková, Gabdullin)

Puschkin hat auch einen Erzähler eingeführt, der tritt immer wieder aus seiner Geschichte heraus, wendet sich an die Leserinnen, kommentiert, parodiert, sinniert und unterbricht mitten in der Erzählung, weil „er jetzt eine Pause braucht und einen Spaziergang machen muss“. Dies tue ich auch und verspreche, über die Musik, die neben dem Tanzt einen wichtigen Anteil an den im Publikum hervorgerufenen Emotionen hat, einiges mitzuteilen, wenn ich Roman Lazik mit Ketevan Papava, Jakob Feyferlik mit Madison Young gesehen haben werde.

Eine letzte Bemerkung, die Ersten vier Zeilen von Tatjanas Brief an Onegin, im Kerzenschein mit der Gänsefeder gekrakelt, sind auf dem Zwischenvorhand zu lesen. Der Erzähler, reimt der Dichter Puschkin, hat sie aus dem Französischen übersetzt:

Ich bin so kühn – an Sie zu schreiben – Ach, braucht es mehr als dies allein?
Nun wird gewiß – was soll mir bleiben? – Verachtung meine Strafe sein!

„Onegin“, Ballett in drei Akten (sechs Bildern) von John Cranko nach dem Roman in Versen „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin.
Choreografie und Regie: John Cranko. Musik: Peter I. Tschaikowski, eingerichtet und instrumentiert von Kurt-Heinz Scholze. Ausstattung: Elisabeth Dalton; Licht: Stehen Bjarke. Einstudierung: Reid Anderson, Lukas Gaudernak, Jean Christoph Lesage. Dirigent: Ermanno Florio.
Die Tänzer*innen: Onegin: Robert Gabdullin, Roman Lazik, Eno Peçi; Tatjana: Nina Poláková, Ketevan Papava; Olga: Natascha Mair, Nikisha Fogo, Madison Young; Lenski: Denys Cherevychko, Davide Dato, Jakob Feyferlik. Gremin: Alexis Forabosco, Vladimir Shishov. Cops de ballet. 
Sechs Vorstellungen (47.–52.) zwischen 8. und 26. Jänner 2020. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Tay © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Die Zitate aus Puschkins Werk sind der Übersetzung von Theodor Commichau, 1916 entnommen. Quelle: www.zeno.org/Literatur/