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Die Magie der Wörter

Ali Smith in einer Diskussion. Quelle: youtube

Die 61-jährige Schottin Ali Smith, 2022 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, ist eine Zauberin. Dieser Satz stammt leider nicht von mir, sondern vom APA-Kulturchef Wolfgang Huber-Lang. Ich kann ihn aber doppelt unterschreiben, denn die Zauberei hat mich nicht nur beim Lesen von Smiths Roman Gefährten betört, sondern auch in der privaten Bibliothek verwirrt. Ganz aktuell, vor wenigen Tagen.

Postbrexit und mitten in der Pandemie - die Zeit, mit der Ali Smith sich beschäftigt. © doubleglazingnetwork.comGefährten, Ali Smiths Roman, der nach den vier Bänden des Jahreszeitenquartetts erschienen ist, liegt plötzlich in meinen Händen. Welche Freude! Ein neuer Roman der verehrten Autorin. Ich blättere, lese hinein, wann ist er im Original erschienen? Oh, Companion piece ist schon 2022 in den englischen Buchhandlungen gelegen. Auf Deutsch, von der genialen Übersetzerin Silvia Morawetz übertragen, ist der Roman ebenfalls nicht brandneu, 2023 bei Luchterhand erschienen. Wo sich das Buch mit dem bunten Schutzumschlag ein Jahr lang versteckt hat und wieso es mir plötzlich in die Hände gesprungen ist, kann ich nicht sagen. Der Brachvogel (curlew) taucht immer wieder auf in der Erzählzeit und auch in der damit verschränkten Episode aus dem Mittelalter. © Alun Wiliiams 333 / wikipediaMagie eben, Zauberei. Ganz im Sinne von Ali Smith.
Hinter alle den lobenden bis euphorischen Kritiken, die schon 12 Monate in den Zeitungs- und Magazinarchiven ruhen, herzuhinken und gar nichts Neues hinzufügen zu können (außer, dass ich bisher meinte, die Einzige zu sein, die Ali Smith zu Füßen liegt), macht mir keine Freude.
Ich nehme Zuflucht zum bereits zitierten APA-Kulturchef. Er hat mir gestattet, seine wohllautende Rezension des Romans Gefährten in tanzschrift.at zu veröffentlichen, und das tue ich mit Freuden und Dankbarkeit *).
Dieser schwarze Labrador ist nicht Shep, sondern Avon , der um 885 gelebt hat und als Urvater aller Labradors gilt. © gemeinfreiZwei Bemerkungen muss ich noch anbringen, vor allem, um die Bebilderung zu erklären. Das Wortspiel „curlew / curfew“ ist unübersetzbar, deshalb hat es Morawetz einfach so stehen lassen. Diese fast gleich klingenden Substantiva haben nichts miteinander zu tun, sind nur ein Beweis für der Autorin Liebe zur Sprache und ihrem Hang, mit Wörtern und Begriffen zu spielen. Der Curlew ist ein Vogel aus der Familie der Schnepfenvögel, genauer der Brachvogel. Er ist in Mitteleuropa schon sehr selten geworden.Charakteristisch ist der lange, gebogene Schnabel. Das Weibchen ist größer und stärker als das Männchen. Sowohl als Metapher wie auch als reales Wesen spielt der Curlew eine wichtige Rolle im Roman. Nur durch einen Konsonanten unterscheidet sich das Wort curfew von curlew und bedeutet doch genau das Gegenteil. Der Vogel steht gemeinhin für Freiheit, die Lust, über alle Berge und Grenzen zu fliegen. Eine junge Schmiedin, eine alte Truhe und das wertvolle Schloss samt Schlüssel wandern durch die Jahrhunderte. Die lineare Zeit ist für die Autorin nicht wichtig. © Alte Schmiede Kunstverein Wien, Schönlaterngasse 9, 1010 WienCurfew werfe ich in die Übersetzungs-KI: „Sperrstunde, Ausgehverbot, Ausgangssperre“ werden angeboten. Passt, Gefährten, handelt auch von der Pandemie und dem Lockdown. 
Und da ist dann noch der beeindruckende Schutzumschlag, der nach einem Ölbild des postimpressionistischen Das ist natürllich auch nicht Shep, denn Shep, der Gefährte von Sandys Vater, ist eine Romanfigur. Doch Shep blickt sicher ebenso treuherzig. © wikimedia.orgMalers Paul Sérusier (1864–1927) gestaltet ist. Sérusier war Mitglied der Künstlergruppe Nabis, deren Mitglieder durch ihre neuartigen Bildkompositionen und die Vielfalt ihrer verwendeten Medien bekannt wurden. Das verwendete Motiv nannte der Künstler Undergrowth / Gestrüpp, Unterholz. Auch die englischen Ausgaben verwenden alle Motive aus dem Wald.
Ali Smith sinniert nicht nur über die vielfältige Verwendung des Grußwortes „Hallo“, sondern auch über die companions, die Gefährten. Das müssen nicht nur menschliche Wesen sein, vierbeinige Gefährten sind üblich. Auch die Erzählerin hat einen, einen schwarzen Labrador, der ihr temporär zugewachsen ist. „Sous-Bois (Le Huelgoate)“, das Gemälde von Paul Sérusier, ist die Basis für die  Gestaltung des Schutzumschlages. Quelle: Musée Toulouse-Lautrec in Albi / © gemeinfrei.
Shep gehört ihrem Vater, doch der ist gerade im Spital, „nicht wegen Corona“, betont sie gerne. Doch nicht nur, was die Gefährten betrifft, hält es Ali Smith mit der Vielfältigkeit und Diversität. Auch Blumen, Polster, Bücher (sowieso) oder Steine können Gefährten sein. Obwohl der englische Titel nicht Gefährten meint, das companion piece ist ein Anhängsel, ein Zusatztext, ein Pendant oder eine Ergänzung, was wohl für diesen Roman, der noch einmal in der Corona-Zeit spielt, am ehesten passt. „Gefährten“ von Ali Smith, Schutzumschlag der deutschen Ausgabe. © Luchterhand LiteraturverlageDoch, wie gesagt, allerlei Gefährten, vom Vogelbaby bis zum Hundegreis, auch menschliche, willkommene und unwillkommene, umgeben Sandy, die Erzählerin.
Zum Einstieg schimpft Sandy erst einmal richtig los: „Zu der Zeit war für mich alles Mist einer einzigen Mistigkeit“ Die „Mistigkeit“ verdanken die Leserinnen natürlich der Übersetzerin. Ein Merkwort! Am Ende aber wendet sich vieles zum Besseren. Eine freundliche Radfahrerin, die Shep kennt, erkundigt sich nach seinem Herrchen und die beiden Frauen, die Radlerin und Sandy, verabschieden sich mit einem gerufenen „Hallo“.

Ali Smith: Gefährten, Companion piece, aus dem Englischen von Silvia Morawetz. 256 Seiten, Luchterhand, 2023. € 24,70. E-Book: € 14,99.