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Bildnis einer jungen Frau in Helsinki

Pirkko Saisio, im Kulturleben Finnlands eine wichige Person.

In ihrer Heimat, Finnland, ist sie eine bekannte und geehrte Persönlichkeit. Im deutschen Sprachraum muss die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Pirkko Saisio noch entdeckt werden. Dies kann jetzt mit der Übersetzung des Romans Punainen erokirja / Das rote Buch der Abschiede versucht werden. Mit dem richtigen Werkzeug kann ein wahrer Schatz ausgegraben werden.

Pirkko und eine Freundin leisten gemeinnützige Arbeit in Helsinki, 1965.  © Privat / Klett-CottaDas rote Buch der Abschiede ist der letzte Teil einer Trilogie, die Saisio 1998 begonnen hat, um von Kindheit und Jugend im Helsinki der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Da passt wohl der vom französischen Literaturkritiker Julien Serge Dubrovsky geprägte Begriff der Autofiktion, der „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten“. Die Erzählerin in Saisios rotem Buch ist fiktiv, obwohl sie deutlich der Autorin gleicht, doch Zeit und Raum sind real.
Sei’s drum, es ist ja für die Leserin völlig egal, welchen Merkzettel die Literaturwissenschaft einem Roman aufklebt, wichtig ist, dass gut erzählt wird, uns der Bericht nicht mehr loslässt und wir bedauern, dass die letzte Seite schon erreicht ist und das rote Buch im Regal landet. 1968: Pirkko (mitte) mit ihren Schulkamerad*innen beim traditionellen Matura-Umzug durch die Stadt. © Privat / Klett-Cotta
Pirkko Saisio ist 1949 geboren, ihre Kindheit und Jugend erlebte sie im Arbeiterbezirk Kallio von Helsinki. Im roten Buch der Abschiede, erschienen 2003, wird der Abschied von der Jugend, vom Elternhaus, von manchem Ideal, behandelt. Doch die Erzählerin hält sich nicht an eine lineare Chronologie und einen dreidimensionalen Roman, sie scheint rückblickend Teile eines Puzzles zu sehen, das sie erst mühsam zusammensetzen muss. Das heranwachsende Mädchen erzählt, dann wechselt die Buchautorin wieder in die dritte Person und ist die reale Autorin und die von ihr geschaffene Person zugleich, und immer wieder gleitet sie auch in die Gegenwart des Schreibens, also ins nächste Jahrhundert. So muss auch die Leserin die Stationen im Leben der Erzählerin zusammensetzen und einordnen. 1988: Pirkko Saisio mit ihrer Tochter Elsa bei einem Turnwettbewerb.© Privat / Klett-Cotta
Andererseits ist auch dies nicht notwendig, es sind Momentaufnahmen von wichtigen Punkten im Heranwachsen des Mädchens, das lieber ein Bub wäre und Hosen tragen möchte. Erst als sie erfährt, dass es „auch Frauen gibt, die Frauen lieben“, fühlt sie sich wohler. Verstecken muss sie sich trotzdem, Homosexualität war in den 1970er Jahren in Helsinki noch strafbar. In Österreich wurde Homosexualität 1971 legalisiert, anerkannt und gleichberechtigt waren gleichgeschlechtliche Paare deshalb noch lange nicht. Saisio nennt die Liebe(n) des jungen Mädchens niemals beim Namen, doch die Leserin weiß genau, worum es geht. Zumal das Thema heute wieder brandaktuell ist. 1992: Pirkko Saisio (links) mit Jussi Tuurna und Tiina Lindfors, Darsteller / Darstellerin in dem Stück „Pula-ajan Cats“. © Privat / Klett-Cotta Ein Blick nach Russland, das sich mit Finnland, dem jüngsten Natomitglied, die wunderbare Landschaft Karelien und mehr als 1000 Kilometer Grenze teilt, zeigt deutlich, wie schnell sich das Rad wieder zurückdreht. Rasant rutschen wir in eine Zeit, die wir längst überwunden glaubten. Restriktionen, Verbote und Regeln von allen Seiten engen das Leben von Frauen und Männern ein. Es scheint fast, als sollten die Menschen wieder zu Marionetten werden, die willig und ohne aufzumucken an den Fäden der Patriarchen tanzen. In 66 Staaten wird Homosexualität noch strafrechtlich verfolgt, in 12 Ländern droht sogar die Todesstrafe für Lesben und Schwule. Letzte Meldung: „Ghanas Bischöfe stützen Gesetze gegen Homosexualität.“ Die katholische Kirche pflegt eine lange Tradition der Eingriffe und Einmischung in das irdische Leben. Im Heim der Erzählerin gab es keine Bibel, lediglich die gesammelten Werke von Lenin und Stalin standen im Regal.Blick auf das Zentrum von Helsinki. © wikipedia / lizenzfrei
Als Leserin aus Saisios Generation lesen sich die einzelnen Szenen für mich weniger als Erinnerung, eher wie Situationsberichte aus der Gegenwart. So viel hat sich in den vergangenen 50 Jahren doch nicht geändert. Die erzählende Pirkko Saisio ist mir ganz nahe, weniger wegen des zersplitterten Lebens, ihrer Suche nach der Liebe und der Unsicherheit des jungen Mädchens, mehr durch die Art des Erzählens. Pirkko Saisio, oder wer immer da erzählt, spricht direkt, spontan zur Leserin und weckt in ihr die unterschiedlichsten Assoziationen. Die Szenen sind dramatisch konstruiert, mit Absätzen und vielen Dialogen. Die Erzählerin nimmt die Leserin an der Hand und wandert mit ihr durch ein Leben und zugleich durch die Stadt Helsinki, von der die Wenigsten eine Vorstellung haben werden. ASchutzumschlag: „Das rote Buch der Abschiede“.  © Klett-Cottam Ende des Buches gibt es einen etwas kursorischen Stadtplan der finnischen Hauptstadt, ein untaugliches Alibi. Doch es gibt Google.
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe erklärt Saisio auch den Titel: „Das kurze Wort „ero“ aus dem finnischen Buchtitel enthält viele Bedeutungsebenen: unterschiedlich zu sein und anders zu sein, das Ende einer Beziehung oder Ehe, Abschied aus Gemeinschaften, so wie Abschied im Allgemeinen. Alle diese Ebenen werden im Buch verhandelt.“

Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede / Punainen erokirja, aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. 304 Seiten, Klett-Cotta, 2023. € 25,70. E-Book: € 20,00.