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Nachts tobt das Tier in ihr in Wald und Wiese

Autorin Rachel Yoder, fotografiert von Nathan Biehl.In ihrem Debütroman, Nightbitch, lebt die amerikanische Schriftstellerin Rachel Yoder ihre wildesten Fantasien aus. Mütter, die ihrem Nachwuchs zuliebe den Beruf aufgegeben haben und sich dem Breikochen und Windelwechseln hingeben, werden ebenso ihre Freude an dem furiosen Roman haben wie kinderlose Frauen. Ein Roman, der hervorsprudelt wie ein Geysir, magisch, feministisch, surreal und auch komisch.

Das wilde Tier, ein Panther, zeigt die Zähne. © WikipediaNightbitch ist eine Mutter, sie braucht keinen Namen, denn sie ist nur noch Mutter, ihren Beruf und ihre künstlerischen Ambitionen, sie hat gerade erste Erfolge als Konzeptkünstlerin, hat sie aufgegeben. Sie wird sich nur ihrem Kind widmen. Dass das Leben dadurch eng wird, sie mit dem brüllenden Baby wie eine Gefangene lebt, hat sie nicht bedacht. Der kleine Sohn braucht sie, doch diese Vereinnahmung macht die Mutter wütend. Was in ihr brodelt, zeigt sich auch im Körper. Der Roman „Nightbitch“ wurde bereits in 30 Sprachen übersetzt, unter anderen auch in Thai. © Buchcover in ThailandSie bemerkt zunehmende Behaarung, verspürt im Rücken den Ansatz eines Schwanzes, die Zähne werden spitzer und sie will den geliebten kleinen Sohn mit ihr vergrößerten Zunge abschlecken. Die namenlose Mutter gibt sich selbst den Namen Nightbitch. In der Nacht verspürt sie den Drang hinauszurennen, wie ein Hund zu knurren, sich zu anderen Hunden zu gesellen und mit ihnen auf eine nächtliche Jagd zu gehen. Als nächtliche Hündin. Damit erklärt sich auch der Buchtitel und der Name der Protagonistin: Bitch ist in der Zoologie kein Schimpfwort, benennt das Weibchen, die Hündin.  Der Sohn wird größer und beteiligt sich am Hundespiel, schläft auf dem Boden, und bekommt auf eigenen Wunsch seine Mahlzeiten im Hundenapf, schlabbert das Wasser aus der Schüssel. Auf dem Spielplatz beobachtet die Mutter andere Mütter. Die sind nicht wie sie. © lokalkompass.de/ Foto Schmitz
Yoder beschreibt die nächtliche Metamorphose unaufgeregt und realistisch. Vergebens wartet die Leserin, dass sich ihr Hundekörper, ihre Gier nach rohem Fleisch und die wilde Wut, die in ihr tobt, als Traum erweist. Nightbitch träumt und fantasiert nicht, sondern lebt ihre andere Seite, wehrt sich gegen das eintönige Dasein einer Mutter zwischen Babyschwimmen und Spielplatzbesuch. Kontakt hat sie nur mit anderen Müttern, doch mit diesen will sie sich nicht vergleichen, die sind alle perfekte Mütter, haben keine anderen Ziele, als ihre Sprösslinge als die schönsten und besten zu präsentieren. Wilde Frauen hat es schon immer gegeben. Im Bild von William Adolphe Bouguereau jagen Furien den Orest. © Chrysler Collection NorfolkDie Beobachtungsgabe und der Esprit, mit dem die Autorin ihre Erfahrungen beschreibt, geben dem Roman die nötige Leichtigkeit und mildert die Wut, die man als Frau beim Lesen in sich aufsteigen fühlt. Vielleicht hätte ich damals, als die Kinder klein waren und das lokale wie das weltweite Geschehen unter den Windeln, Bauklötzen und Playmobi-l Figuren zugedeckt worden ist, auch die Haare aufstellen, die Zähne schärfen und brüllend durch den Wald rasen sollen. Rachel Yoder fordert die Frauen geradezu auf, zum Monster zu werden. Doch sie tut dies mit einer spielerischen Leichtigkeit und dem nötigen Humor, um dieses Monster Nightbitch, das sogar die eigene, nervtötende Katze umbringt, trotz allem zu lieben, ja es im Grunde selbst sein möchte. Nastassja Kinski im Film  „Katzenmenschen“ von Paul Schrader, 1982. © Filmstill /Produktion Charles W. Fries Geschichten über wilde, wehrhafte, mächtige Frauen, die mehr zu bieten haben als Muskelkraft, hat es schon immer gegeben, doch immer ist es der männliche Blick, der die mächtigen, selbstbewussten Frauen streift.  Die wilden, magischen, auch mitunter wütenden Frauen gibt es in allen Kulturen. Wir kennen sie als griechische Mänaden oder römische Furien, begegnen ihnen im Kino, etwa in Suspiria von Dario Argento (1977) oder in Paul Schraders Cat People / Katzenmenschen mit Nastassja Kinski (1982) in der Hauptrolle. Seit der Jahrhundertwende geistern die Zauberhaften Hexen aus der TV-Serie Charmed durch die Kanäle.
Eine Lanze für die Eigenständigkeit der Frau hat Virginia Woolf 1929 mit ihrem Essay A Room of One’s Own gebrochen. Der Text hat schnell Anerkennung erhalten und gehört heute zu den meistrezipierten Texten der Frauenbewegung. Cover der ersten deutschen Ausgabe von Margaret Atwoods Debütroman „Die essbare Frau“. © ClaassenDie Übersetzung, Ein Zimmer für sich allein, ist erstmals 1978 erschienen. Ab der Mitte des 20. Jahrhundert beginnt der Bücherberg – Analysen, Streitschriften, Essays, Dokumentationen und auch schöne Literatur, also Romane, Novellen und Kurzgeschichten – rasant zu wachsen. Jetzt sind es die Frauen selbst, die sich schreibend wehren, um gegen die patriarchalische Kontrolle (oder ehrlicher: Versklavung), gegen die hohlen Klischees und Regeln zu kämpfen. Marielle Heller (rechts) hat den Erfolgsroman „Nightbitch° mit Amy Adams als Muttertier verfilmt. Der Film soll von Hulu, einer Streamingplattform von Disney,  veröffentlicht werden.  Ein köstliches Pendant zum surrealistischen und von manchen Rezensent:innen dem magischen Realismus zugeordnet Roman Yoders hat die hoch gepriesene kanadische Autorin Margaret Atwood 1969 mit ihrem Debüt, dem Roman The Edible Woman, veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Werner Waldhoff, Die essbare Frau, ist 1985 erschienen und nur noch antiquarisch erhältlich. Nightbitch wird von Heißhunger befallen, giert nach rohem Fleisch und Blut. Marian, in Atwoods Roman, verliert während der Hochzeitsvorbereitungen, die sie Peter überlässt, immer ihren Appetit, bis sie sich selbst verzehrt. Rasende Mänade,  um 480 v. Chr., Staatliche AntikensammlungenBeide Frauen treiben auf eine Katharsis zu, danach sind sie fähig, ein neues, eigenes Leben zu beginnen. Nightbitch findet zu ihren künstlerischen Ambitionen zurück, zeigt eine ausufernde Performance, samt Sohn und Kaninchen. Endlich kann sie ihre wilde, furiose Seite öffentlich zeigen. Sie ist nicht mehr nur Muttertier, ihr Leben hat auch andere Perspektiven. Yoders Roman ist erschreckend und auch komisch, vor allem aber regt er die Leserinnen auch zum Nachdenken an. Sie müssen ja nicht gleich auf allen Vieren durch die Welt rennen. Im Gegensatz zu den vielen anderen Texten über mutige, magische Frauen, die sich gegen das ihnen zugedachte Leben wehren, spielen in Yoders Roman Männer keinerlei Rolle. Auch der Ehemann, der von Konferenz zu Konferenz eilt und nur am Wochenende sporadisch auftaucht, ist völlig unwichtig, er ist weder böse noch gut, Nightbitch mag ihn, doch er spielt keine Rolle. Es geht der Autorin, wohl aus eigener Erfahrung, um die Rolle der Mutter, die auch im 21. Jahrhundert noch weitgehend über die drei Ks definiert wird. Da kann Frau leicht zum blutrünstigen Hundevieh werden.  

Rachel Yoder: Nightbitch, aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. 304 Seiten, Klett-Cotta,  2023. € 24,70. Auch als E-Book erhältlich.