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Raffaella Romagnolo: „Dieses ganze Leben“, Roman

R. Romagnolo. © Maurice Haas / Diogenes

Ein Entwicklungsroman, der im Heute spielt. Paoletta De Giorgi wird in drei Monaten 16, gerade genug Zeit, um erwachsen zu werden. Freundinnen hat sie keine, so werden die Leserinnen zu ihren Freundinnen, denen sie von erster Liebe und den Lügen in der Familie berichtet. „Dieses ganze Leben“, hat die italienische Autorin Raffaella Romagnolo in Erinnerung an ihre eigene Jugend bereits 2013 veröffentlicht, ihr später aufgelegter erfolgreiche Roman „Destino“ („Schicksal“) ist unter dem Titel „Bella Ciao“ 2019 bei Diogenes erschienen.

„ich bin hässlich. Das ist die Wahrheit, die schlichte, unzweifelhafte Wahrheit.“ Mit diesem typischen Geständnis einer Heranwachsenden – nie erfahren wir, ob Paoletta mit ihrer Selbsteinschätzung tatsächlich recht hat – beginnt ihre Erzählung, die knappe drei Monate, von April bis Juni, dauert. In diesen drei Monaten passiert Positives, Negatives und Umwälzendes. Die abschließende Italienisch-Prüfung und danach die Ferienzeit stehen bevor und Paoletta erlebt mit Antonio die erste Ahnung von Liebe mit all ihren Hochs und Tiefs. Im italienischen Piemont ist die Autorin geboren, dort spielt auch der Roman "Dieses ganze Leben". Bild © Kuoni.ch    Das kleine private Glück zerstört Paola selbst, das mühsam aufrecht erhaltene Scheinglück der Familie bricht ebenfalls zusammen. Polizei in der Villa der De Giorgis, Skandalreporter*innen davor.
 Paoletta, Tochter aus reichem Haus, ist nicht gerade verwöhnt, die Liebe und Sorge der Mutter gehören vor allem Richi, der im Rollstuhl sitzt, nur schlecht sprechen und einen Arm nicht benützen kann. Richi ist klug und tapfer und leidet von allen Familienmitgliedern am wenigsten unter seinem Sosein. Paola liebt ihren Bruder wirklich, und ist auch die einzige, die sein unartikuliertes Kauderwelsch verstehen kann. Aragorn, einer der Helden aus dem Roman "Der Herr der Ringe", dargestellt von Viggo Mortensen, ein Traummann für Paola. © Videousschnit / eurgamerde.  Video eurgamerdeSie erzählt ihre Sorgen und Wünsche einer imaginären Freundin, Carmen, und vergräbt sich in Fantasyromane und auch klassische Literatur. „Anna Karenina“ liest sie am Pool, die Figuren aus Tolkiens „Der Herr der Ringe“ sind für sie lebendiger als die Menschen ihrer Umgebung. Der Vater ist kaum vorhanden, er ignoriert Richi und kümmert sich vor allem um die prosperierende Baufirma, die schon Paolas Großvater, den Dottore, durch den Bau von Wohnblöcken reich gemacht hat. In so einem Betonblock wohnt auch Antonio, mit dessen Bruder sich Richi anfreundet. Die beiden Buben vergnügen sich beim Schachspiel, die größeren Geschwister sitzen vor dem Video. Über diese Freundschaft ist Mamma De Giorgi nicht gerade erfreut, der soziale Unterschied zwischen den beiden Familien macht ihr zu schaffen. Paoletta und Richi aber besuchen auf ihren gemeinsamen Spaziergängen lieber die „Margeriten" als den noblen Golfplatz. Zementwerk (in Mokra / Serbien), davon lebt die Familie De Giorgi. Der Geburtsort der Autorin, Casale Monferrato, gilt als Hauptstadt des Zements. ©  Heidelberg Cement, HeidelbergAuch in der Nacht, da die Geschwister beschlossen haben, das Schweigen und Lügen der Familie hinter sich zu lassen, flüchten sie genau dorthin, in die Margeriten-Siedlung und zum gerade im Bau befindlichen Biosolar. Entsetzt müssen sie im Licht der Lastwagenscheinwerfer sehen, was sie nicht sehen dürfen und auch nicht sehen wollen. Doch Paoletta überwindet den Schock, bewältigt das Desaster, das über ihre Familie hereinbricht, und findet endlich Kontakt zur Mutter. Eine neue Paoletta, aufrecht, mutig und verantwortungsbewusst, schlüpft aus dem Ei. eine erwachsene. Zur Zei des Desasters ist "Anna Karenina" von Leo Tolstoij Paolas Lieblingsbuch. © DVD-Cover. Am Ende erkennt Paola, dass sie ihr Leben nicht von anderen gestalten lassen muss, sondern selbst dafür zuständig ist. Sie unterdrückt ihre Eifersucht auf die Schulkollegin Marta und hat in ihr eine wahre Freundin gefunden, die imaginäre Carmen ist nicht mehr notwendig. Mutig rafft sie sich auf, den schmerzhaften Bruch mit Antonio zu kitten und hat gelernt, sich Problemen zu stellen statt wegzulaufen. Es gelingt ihr, die Familie zu zwingen, endlich mit der Wahrheit herauszurücken. Das Lügen und Verschweigen hat ein Ende. Paola wird die Oma nicht als Vorbild betrachten. Die hat aus Bequemlichkeit und mangelnder Widerstandskraft das falsche Leben gewählt. Viel zu spät bekennt sie sich zu ihrer wahren Liebe, einem Bauarabeiter, der nun Gärtner bei ihr ist.  Paola wird vor Antonio aus der Margeriten-Siedlung nicht davonlaufen. Soziale Unterschiede sind ihr egal, „aber die Liebe ist wichtig!“ Ein Zitat aus dem Roman „Nati due volte“ des Italieners Giuseppe Pontiggia, † 2003. Unter dem Titel „Die Hausschlüssel“ hat Gianni Amelio die Geschichte um einen behinderten Buben und seinen Vater verfilmt.
Buchcover "Dieses ganze Leben". © Diogenes VerlagRaffaela Romagnolo erinnert sich lebhaft an ihre eigenden Träume und Erwartungen als Heranwachsende, sie wird zu Paola De Giorgi, die frei heraus über sich und die anderen spricht. Ohne modischen Jugendsprech zu verwenden, ist ihre Roman lebendig und optimistisch. Außerdem schenkt Romagnolo ihrer Hauptfigur und Ich-Erzählerin Paola / Paoletta eine gute Portion Humor und Selbstkritik, wobei sie niemals nur an der Oberfläche kratzt, sondern trotz aller Lockerheit ernste und ernst zu nehmende Töne anschlägt. Auch wenn Jugendliche im Zentrum des Romans stehen, so ist „Dieses ganze Leben" nicht unter die Jugendbücher einzustufen, zumal das Geschehen in der Familie De Giorgi von der Realität heute gar nicht so weit entfernt ist.

Raffalla Romagnolo: „Dieses ganze Leben“, „Tutta questa vita“, aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes, 2020. 272 S. € 22,70. E-Book: € 18,99.