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Filippo Meneghetti: „Wir beide“, Drama

Ein Liebespaar mit grauen Haaren: Martine Chevallier, Barbara Sukowa.

Nina und Madeleine sind verliebt, seit langem leben sie zusammen. Doch das darf niemand wissen. Nicht nur, weil die beiden Frauen schon graue Haare haben. Filippo Meneghetti hat für „Wir beide“, „Deux / Zwei“ im französischen Original, zwei großartige, ich möchte sagen, umwerfende, Darstellerinnen gefunden: die deutsche Schauspielerin und Sängerin Barbara Sukowa und die französische Bühnenkönigin Martine Chevallier, Ehrenmitglied der Comédie-Française. Beide haben den 70. Geburtstag bereits gefeiert. Es hätte nicht der dramatischen Handlung bedurft, um den mehrfach preisgekrönten Film zum Erfolg zu führen.

Madeleine, Witwe mit erwachsenen Kindern, und Nina sind verliebt. (Martine Chevallier, Barbara Sukowa.) Alle Bilder: © filmladen Filmverleih Das Geheimnis der „zwei grauhaarigen Lesben“, wie Nina es einmal ärgerlich herausschreit, zeigt auch die Kamera, alles liegt in nebligem Halbdunkel, die eher düstere, labyrinthische Wohnung von Madelaine, der kleine Gang zwischen den beiden Wohnungen, die immer die Türen offen haben, um problemlos kommunizieren zu können, die alte Brücke  über den Vidourle im südfranzösischen Ort Sommières, wo die Außenaufnahmen gedreht worden sind, im Park davor schreien die Krähen, die Bäume lassen ihre Blätter fallen. Nina (Barbara Sukowa) träumt im Park. Allein, Madeleine wird von der Familie abgeschottet.
Die beiden Liebenden wollen ihre Wohnungen verkaufen und nach Rom auswandern, wo sie einander kennen gelernt haben und nun leben wollen. Nina war einst Fremdenführerin, ist nun unabhängig, niemanden Rechenschaft schuldig. Doch Mado, wie sie von Nina gerufen wird, hat Familie. Einen erwachsenen Sohn, eine Tochter mit heranwachsendem Sohn. Sie wagt es nicht, ihnen von Liebe und Umzug zu erzählen. Ein Konflikt zwischen den beiden Frauen bahnt sich an, eine Katastrophe passiert. Nina darf die Wohnung ihrer Geliebten nicht mehr betreten, deren Tochter, Anne, (Léa Drucker) okkupiert die Mutter. Die Sukowa zeigt nun, welch große Darstellerin sie ist. Verzweiflung, Wut, Hass, Sehnsucht, Widerstand, Kampfbereitschaft und Hoffnung spiegeln sich in ihrem Gesicht. Wenn sie traurig und verzweifelt im Park sitzt und träumt, sie müsste Mado vor dem Ertrinken retten, erklärt sich auch die kryptische, romantische Anfangsszene, in der zwei Kinder im Park spielen. Nina ist eine tapfere Frau und gibt nicht auf. Nina steht vor der verschlossenen Tür von Madeleine: "Was geht da drinnen vor?" Als Anne ihre Mutter unter ihre Fittiche genommen hat erfährt sie, während sie deren Wohnung räumt, in einem Fotoalbum, dass sich die beiden Frauen schon lange kennen. Plötzlich erkennt sie, dass Nina nicht nur eine lästige Nachbarin ist, die sich in alles einmischt und sie weiß, dass sie ihre Mutter, mit der sie, im Gegensatz zu ihrem Bruder, ein inniges Verhältnis gehabt hat, loslassen muss. Madeleine hat bis zum Tod ihres Mannes als unglückliche Ehefrau neben ihm ausgeharrt, ihn ertragen und die beiden Kinder versorgt. Jetzt, weiß Anne, dass sie ein Recht auf ihr eigenes Leben hat, wie auch immer sie es gestalten will.
Doch die Reue, dass sie ihrer Mutter die Geliebte vorenthalten hat, kommt zu spät. Selig tanzen Madeleine und Nina im Nachthemd und bloßfüßig in der bereits geleerten Wohnung. Die Türe bleibt verschlossen, Anne hat keinen Zugang mehr. Tochter Anne (Léa Drucker) mit ihrer frisch frisierten Mutter, Madelaine. Regisseur Meneghetti konzentriert sich immer wieder ganz auf die Gesichter der drei Frauen. Die Kamera erforscht ihre Mimik, hält jede Gefühlsregung fest.

Als Anne ist Léa Drucker das Gegenstück zur starken Nina, zerbrechlich und mitfühlend, aber eben auch eine Liebende, eine liebende Tochter. Liebevoll wäscht sie in ihrem Salon ihrer Mutter wöchentlich die Haare, feiert mit ihr den 70. Geburtstag, bringt ihr eine Katze als Kuscheltier und animiert ihren jungen Sohn, mit der Oma zu plaudern. Zu spät erkennt sie, was ihre Mutter wirklich braucht. Auch Léa Drucker als Anne ist eine französische Schauspielerin mit einer reichen Filmografie. Für ihre Rolle in Xavier Legrands Film „Nach dem Urteil (Jusqu’à la garde)“ hat sie 2019 den César und andere Preise als beste Darstellerin erhalten.
Nina fühlt sich allein und verlassen. Doch sie wird einen Ausweg aus der unerträglichen Situation finden.Meneghetti arbeitet mit bedeutungsvollen Bildern und Metaphern, die angebrannte Leber in der Pfanne oder der Krähenflug im Park, der Spiegel, vor dem Nina lange steht, das diesige Wetter, Objekte und Einstellungen ersetzen oft plätschernde Musik und erzählen über die Menschen in einer besonderen Situation. Meneghetti macht immer wieder Anleihen beim Genre des Thrillers. So haben etwa die Wohnungstüren der beiden Frauen einen sogenannte Spion, eine Linse, durch die man beobachten kann, wer vor der Tür steht. Die ausgeschlossene Nina schaut auch heimlich durch den Spion nach innen. Martine Chevallier und Barbara Sukowa: Das Liebespaar. PlakatsujetDie Spiegel, das Labyrinth von Madeleines Wohnung, in dem sich immer wieder Personen verstecken, der Wechsel zwischen Nähe und Distanz, und – noch einmal seien sie erwähnt – die Flüge der schreienden Krähen, dies alles erzeugt eine nahezu unheimliche Spannung. Ein wenig unheimlich, jedenfalls undurchschaubar wirkt auch Muriel Benazeraf als Pflegerin Muriel, die von Nina vertrieben wird. Manch komische Situation lockert die Beklemmung und Melancholie auf, die weite Passagen des Films prägen. Heiter, aber tief beeindruckt, verlasse ich das Kino. Ich bin sicher, Madeleine und Nina schaffen es, ins sonnige Rom zu gelangen.

Filippo Meneghetti: „Wir beide“. Regie und Drehbuch: Filippo Meneghetti, Drehbuchmitarbeit: Malysone Bovorasmy in Zusammenarbeit mit Florence Vignon. Kamera: Aurélien Marra.
Mit: Martine Chevallier, Barbara Sukowa, Léa Drucker, Muriel Benazeraf und anderen. Produktion: Paprika Films. Verleih: Filmladen Filmverleih. Im Kino ab 16. Oktober 2020.
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