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Alice Zeniter: Über die Frauen in der Literatur

Alice Zeniter, eine außergewöhnliche Autorin.

Unkonventionell, vergnüglich, lesenswert. Das ist der jüngste Roman der französischen Autorin Alice Zeniter. In Eine ganze Hälfte der Welt. Die vernachlässigten Frauen der Literatur befasst sich Zeniter nicht allein mit der Rolle der dargestellten Frauen in der Literatur der vergangenen Jahrhunderte. Ihre Gedanken kreisen um das engagierte (weibliche)  Schreiben und das lustvolle Lesen. Munter sprudelnd teilt sie diese ihren Leserinnen mit. Vergnügen und Gewinn zugleich.

Cover der französischen Originalausgabe, Flammarion, 2022. Alice Zeniter, geboren 1986, hat noch als Schülerin ihren ersten Roman geschrieben. Deux moins un égal zéro / Zwei minus eins ist gleich null, eine Geschichte von zwei Mädchen, die während der Kriegszeit einen Hund aufnehmen und versuchen, in einem verwüsteten Land zu überleben, ist 2003 veröffentlicht worden, jedoch nicht auf Deutsch erschienen. Inzwischen hat sie weitere sechs Romane, Drehbücher, Hörspiele geschrieben und zahlreiche Preise erhalten. Nicht nur von jungen Leserinnen wird Alice Zeniter in ihrer Heimat längst als Superstar gefeiert.
Eine ganze Hälfte der Welt ist allerdings kein Roman, eher ein fröhlicher Ausflug in die Welt der Literatur, des Schreibens und des Lesens. Laurence Sterne, Autor des Romans „Tristram Shandy“, porträtiert1780 von  Joshua Reynolds. Der Aufbau dieses Romans wird auch heute noch kopiert, meint Alice Zeniter und will anders schreiben. Die Form des gewöhnlichen Romans, der sich noch immer an den Regeln aus dem 18. Jahrhundert orientiert, möchte sie durchbrechen, sicher wissend, dass es der neue, der ganz andere Roman, die experimentelle Erzählung immer die Leserinnen irritiert haben. Ein Beispiel sei gestattet: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman / Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (Kurz Tristram Shandy) von Laurence Sterne. Der erste der neuen Bände ist 1759 erschienen, der 9. und letzte 1767. Der französische Autor Claude Simon erhielt für seine Romane 1985 den Nobelpreis. Das Foto ist 1967 entstanden. © wikipedia
Im 20. Jahrhundert tauchte in Frankreich der neue Roman als Gattung auf: Le Nouveau Roman. Claude Simon war einer der ersten, der mit den alten Regeln gebrochen hat. Der Erfolg bei den Leserinnen war ihm nicht beschieden, die Nobelpreisjury an der schwedischen Akademie war begeistert und hat Simon 1985 den begehrten Preis verliehen. Der Autor war da bereits 72 Jahre alt.
Wie auch immer, Alice Zeniter hat das lineare Erzählen und die ungeschriebenen Regeln für Prosatexte satt und will so schreiben, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Anfangs jedoch berichtet sie, wie sie sich als Kind und Jugendliche an den männlichen Helden orientiert hat, es gab ja keine anderen. Nimmt man die üblichen Listen der 100 wichtigsten Bücher, also den Kanon der Literatur zur Hand, so findet man bis in die 1960er Jahre kaum eine Heldin, eine Frau, die agiert, anstatt zu reagieren. Die Literatur ist bis zu Ende des 20. Jahrhunderts männlich, eine ganze Hälfte der Welt ist nur am Rand vorhanden. Jugendliche wie erwachsene Leserinnen finden keine Vorbilder, keine Möglichkeit sich zu identifizieren. In den Romanen Jane Austens (1775–1817) stehen Frauen im Mittelpunkt. Junge Leser tun die Lektüre als „Mädchenkram“ ab. Das Porträt hat Janes Schwester Cassandra um 1810 gemalt. © wikipedia Zeniter befasst sich nicht mit der Unterrepräsentation von Autorinnen, sondern mit dem Inhalt der Erzählungen. Selbst Autorinnen erzählten von den strahlenden Helden, den tapferen Verteidigern der Ehre (ihrer und der ihrer Angebeteten). Emma Bovary, die Heldin des Romans von Gustave Flaubert, ist nicht unbedingt eine Identifikationsfigur für Leserinnen.  Der Autor kam vor Gericht wegen „Verstosses gegen die öffentliche Moral". Er wurde freigesprochen, aber vom Richter wegen seiner Erzählung getadelt. Cover der Erstausgabe 1857.  Doch Zeniter hütet sich vor Verurteilung, lieber erzählt sie von den Autorinnen, die sie liebt und schätzt (logisch, dass es vor allem französisch schreibende sind), weil die weiblichen Figuren zu eigenständigem Denken und Handeln fähig sind, sexuelles Begehren verspüren, auch Freundschaften mit anderen Frauen pflegen. Um den sogenannten Kanon der Literatur, national oder international  (ich nehme an, es gibt auch in Frankreich „100 wichtigste Romane“) schert sie sich dabei nicht und es geht ihr auch nicht darum: „die Zuneigung, zu schmälern“, die sie für die Werke all der Autoren und wenigen Autorinnen empfinde, deren Frauenfiguren sie analysiert, weil sie ihr beim Lesen keine Orientierung bieten und kein Vorbild sein können. Kanon der LiteraturToni Morrison (1931–2019) hat 1993 als erste schwarze Autorin den Literaturnobelpreis erhalten. Alice Zeniter schätzt sie, weil ihre Frauenfiguren echte Heldinnen sind und keine untertänigen Beiwagerl.  Doch diese „ganze Hälfte der Welt“ ist nicht der Autorin einziges Anliegen, fröhlich und unverblümt plaudert sie mit der Leserin, als spazierten Freundinnen durch einen Rosengarten, Dornen nicht ausgeschlossen. Alice Zeniter regt zum Nachdenken über das, was wir so lesen, an. Zeniter plädiert nicht nur für das Ersetzen der Frauenfiguren in der schönen Literatur, sondern auch für die Erweiterung der Form und des Stils und auch vehement für die Freude am Lesen. Schutzumschlag der deutschen Ausgabe. © berlin VerlagDass sie selbst mehr Freude am Schreiben gewinnen will, indem sie mutig alle alten Regeln und Konventionen über Bord wirft, macht sie zu einer hervorragenden und überdies sympathischen Autorin. Und natürlich macht sie deutlich, dass sie, Alice Zeniter, es ist, die da analysiert, kritisiert und evaluiert. Das häufigste Pronomen ist „ich“ und sofort möchte ich ihr antworten, zustimmen, widersprechen, so lebendig ist ihr Stil, so klug sind ihre Ansichten.

Alice Zeniter: Eine ganze Hälfte der WeltDie vernachlässigten Frauen der Literatur (Toute une moitié du monde), Deutsch von Yvonne Eglinger, 256 Seiten, Berlin Verlag, 2025.  € 22,70. eBook: € 18,99.