
Tanz Linz: Living Room, aus Zwei mach Eins.

Zwei kurze Choreografien ergeben einen aufregenden Tanzabend. Katharina Illnar und Arthur S. Sicilia beschäftigen sich in ihrer Choreografie mit der Chaostheorie und als Gast choreografiert der Sizilianer Giovanni Insaudo das düstere Tanztheater Evento. In den beiden recht unterschiedlichen Stücken zeigt die Tanz Linz Company ihre unnachahmliche Qualität und die Freude am Tanzen. Unter dem gemeinsamen Titel Living Room hat die Uraufführung beider Stücke am 18.5. in der Black Box des Musiktheaters begeistert.
Aus der Gruppe, mit der Gruppe. In ihrem Choreografie-Debüt zeigen die beiden Company-Mitglieder Katharina Illnar und Arthur S. Sicilia, wie „Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann.“ So hat der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz (1917–2008) die Wettervorhersage auf ein einfaches Beispiel heruntergebrochen. In noch einfacherer Sprache „Kleine Ursache, große Wirkung.“ Das System einer Gruppe, etwa einer Tanzcompany, ist immer ein dynamisches, schon die kleinste Veränderung kann das System durcheinanderwürfeln oder auch enger zusammenführen.
Illnar, Sicilia und den Tänzerinnen ist mit dem Tanzstück Chaostheorie nicht nur eine abwechslungsreiche, unterhaltsame Performance gelungen, sondern auch eine Aussage über das Wesen von Tanz Linz selbst: Eine kompakte Gruppe, die die gleichen Ziele verfolgt und doch zugleich eine Ansammlung von Individuen. Immer wieder verlassen welche das System, tanzen aus der Reihe, die Struktur muss neu geordnet werden.
Nichts ist vorhersehbar, auf nichts kann man sich verlassen. Mithilfe sanfter dramaturgischer Eingriffe ist ein ständiger Fluss von Bewegungen, sanft und aggressiv, tänzerisch und akrobatisch entstanden, der durch die Wiederholung von Auflösung und Neuorientierung der Gruppe die Chaostheorie als Ballett verständlich macht. Und zugleich erfährt das Publikum, wie so eine fragile Gruppe wie eine Tanzcompany, diese Tanzcompany, funktioniert. Überdies gelingt Illnar / Sicilia im Wechsel von Solos, Pas de deux und synchronem Gruppentanz, auch kleine Geschichten zu erzählen. Die präzisen, auch im Takt der Worte entstandenen Bewegungen im Raum schaffen eine Brücke in den Zuschauerraum. Das tanzaffine Publikum kennt seine Tänzerinnen, und ehe man sich's versieht, ist die vierte Wand, die in der Black Box ohnehin nicht vorhanden ist, niedergerissen und aus zwei Gruppen ist eine Familie geworden.
Der Übertitel oder wenn man will, das Motto des Abends – Living Room – bezeichnet im Englischen das Wohnzimmer, in diesem Sinne ist auch die Bühne, ist der Probensaal auch ein Wohnzimmer. In seiner Choreografie Evento verlegt Giovanni Insaudo das Wohnzimmer in den Keller. Eine Frau dämmert zwischen Fernseher und Jukebox vor sich hin. Der Mann, ihr Mann, erscheint und benutzt sie als Fetzenpuppe. Sie wehrt sich nicht, ist willenlos und ihm ausgeliefert. Er wirft sie einfach weg. Ein Panoramafenster wird sichtbar, hinter dem sich eine Festgesellschaft befindet, sehnsüchtig blickt der Mann hinaus und sieht plötzlich sich selbst in der Gesellschaft.
Mit diesem Doppelgänger, Spiegelbild oder Schatten, bekommt der Tanz etwas Unheimliches, Geisterhafte. Und als wenig später die Gästeschar über die knarrenden Stufen in den Keller strömt und sich anreiht, um die noch immer wehr- und willenlose Frau abzuküssen, ist die finstere Gewalt in diesem Stück kaum noch zu ertragen. Hat die männlich dominierte Gesellschaft ihre Gelüste befriedigt, ziehen die Gäste befriedigt wieder ab, die Frau bleibt zurück. Vielleicht ist sie gerettet. Doch als aus der Musikbox eine schmeichelnde Melodie erklingt, rafft sie sich auf, um der gewalttätigen Gesellschaft zu folgen. Sie kennt es nicht anders.
Choreograf Insaudo erzählt, dass er die Inspiration zu dieser unter die Haut gehenden Choreografie einem der seltenen Besuche in seiner Heimat Sizilien zu verdanken hat. Damals ging es um eine Hochzeit, doch von Festesfreude und Liebesglück ist nichts zu spüren in diesem rabenschwarzen Gruselfilm. Dass der Blick in den dunklen Keller, in dem sich die Figuren bewegen wie Gespenster, Gänsehaut erzeugt, liegt wohl auch am Sounddesigner Hodei Iriarte Kaperotxipi, der mit Musik und realistischem Sound (Türenknallen, Treppenkarren, hörbare Time Codes) zwei Ebenen erzeugt. Was auf der Bühne zu sehen ist, erhält eine virtuelle Dimension, die aufs Sonnengeflecht zielt und unter die Haut geht.
Die realen Bilder erhalten eine Bedeutung, die die Zuschauerinnen selbst erzeugen. Die beiden Musikstücke sind so unterschiedlich wie die Choreografien, die sie unterstützen, ergänzen und antreiben. In Chaostheorie arbeitet er mit analogen Synthesizern, Field Recordings und folkloristischen Klängen, die den Kontrast zwischen Sicherheit und Unberechenbarkeit im Living Room, der auch die Welt bedeuten kann, hörbar macht. Für Evento hat Kaperotxipi eine musikalische Erinnerungskulisse im Stil der 1980er-Jahre, durchzogen von flüsternden Stimmen, entworfen.
So unterschiedlich die beiden Choreografien sind, so fügen sie sich doch zu einem einheitlichen Abend, der die Qualität einer stationären, eng zusammenarbeitenden Kompagnie weit über die ungeprüft bejubelten Tourneetruppen weltbekannter Choreografinnen hinaushebt. Appetit auf die nächste Saison? Am 20. September wird Andrey Kaydanovskiy, der Choreograf des erfolgreichen Ballettmärchens Dornröschen, sein neues Stück, Shakespeare’s Dream, zeigen. Die zweite Premiere wird der belgische Choreograf Jeroen Verbruggen einstudieren. Als Titel ist Amor & Psyche? vorgesehen, als Premierendatum der 31. Jänner 2026. Die Juni-Premiere in der Black Box wird eine Gastchoreografin / ein Gastchoreograf bestreiten. Wie Giovanni insaudo auch 2026 ein Preisträger / eine Preisträgerin des Choreografie-Wettbewerbs in Hannover.
Living Room, ein Doppeltanzabend mit Tanz Linz, Black Box Musiktheater. Premiere: 18.5. Folgevorstellungen bis 28.6.2025.
Katharina Illnar & Arthur S. Sicilia: Chaostheorie
Inszenierung und Choreografie: Katharina Illnar. Arthur Samuel Sicilia
Lichtdesign: Katharina Illnar, Arthur Samuel Sicilia;
Giovanni Insaudo: Evento Inszenierung und Choreografie: Giovanni Insaudo
Gastballettmeisterin: Sandra Salietti; Lichtdesign: Giovanni Insaudo;
Für beide Stücke:
Bühne: Aleksander Kaplun; Kostüme: Karin Waltenberger; choreografische Beratung: Yuko Harada; Sounddesign: Hodei Iriarte Kaperotxipi; Dramaturgie: Roma Janus.
Tanz Linz Ensemble.
Fotos: Tim Mesic fotografierte die Hauptprobe am 8. Mai 2025.