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Der Reichtum des Momentums (imagetanz)

Lasse Passage & Ingrid Berger Myhre. © Sara Anke

Mit der österreichischen Erstaufführung von Panflutes and Paperwork haben Ingrid Berger Myhre und Lasse Passage das diesjährige imagetanz-Festival eröffnet. Unter dem Motto „we dance what you think“, was so viel wie „Wir tanzen, was ihr denkt“ heißen könnte – und mit den gezeigten Projekten noch weit mehr an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet – versammelt imagetanz 2020 zehn Ur- beziehungsweise Erstaufführungen national und international tätiger Nachwuchskünstler*innen aus den Bereichen Tanz, Choreografie, Performance, aber auch Komposition, Medienkunst und so mancher Disziplin mehr.

Mit "Panflutes and Paperwork" on Tour.  © István VirágWobei man* schon hier an genau jene Zuschreibungsgrenzen stößt, mit denen sich eine Mehrzahl der eingeladenen Projekte auf unterschiedliche Weisen befassen: Wer „denkt“ hier, wer gibt den Impuls, wer übernimmt diesen wann und in welcher Form, wer verantwortet eine Choreografie, eine Komposition? In ihrer Eröffnungsperformance Panflutes and Paperwork thematisieren die Choreografin Ingrid Berger Myhre und der Musiker Lasse Passage unter anderem genau diese Fragen und tun dies mit ebenso viel Humor wie wunderbar einfallsreichen Variationen. Lasse Passage und Ingrid Berger Myhre in Stavanger, Norwegen. ©  Sara Anke

Zu Beginn begrüßen die beiden das Publikum. Sie organisieren die Bühne ein letztes Mal vor der Performance, richten das Mikrofon ein, trinken noch einen Schluck Wasser. Das A-cappella-Lied, das sie in den folgenden Minuten gemeinsam singen, ist dann schon der Hinweis, dass sich Sprache, Inhalt und Sinn nicht immer in dieser Logik miteinander verbinden: „Fish and chips“, fish, fish, fish, chip and fish … mit sympathischer Ironie nehmen die beiden Künstler*innen vom ersten Moment(um) an das jeweilige Handwerk auf die Schippe, ohne sich dabei je auf die Ebene einer banalen Parodie zu begeben: hier ein Lied für zwei Stimmen, das so variationsreich komponiert ist, als wäre dies auch sein Inhalt, der sich dem aber gänzlich entzieht. Da ein Tanz zu einer eigenen Komposition, dessen Vorstellung und Durchführung sich so oft wiederholt und widerlegt, wie es die Möglichkeiten seiner „Autor*innenschaft“ bieten. Bestechend leichtfüßig: "Panflutes and Paperwork" mit Lasse Passage und Ingrid Berger Myhre. © Thomas LendenZwischen den einzelnen Versuchsanordnungen stellen sich Myhre und Passage immer wieder neu dem Publikum vor, sind Choreografin und Komponist – und sind es in der Folge doch nie ganz ohne jede Bruchstelle.

An einer Stelle der Arbeit erläutert Myhre die Verbindung zweier ungleicher Zahnräder und das kleine Wunder, dass die beiden trotz ihrer Unterschiedlichkeit doch immer aufeinander einwirken, einander bedingen – und bewegen. Sie nennt dieses Moment der Verbundenheit des Unterschiedlichen „magisch“, und magisch ist auch diese Arbeit in vielen ihrer Momente, etwa wenn die beiden Performer*innen nebeneinander auf Stühlen sitzen und mit je zwei kleinen Holzstäben beginnen, ein Klangbild entstehen zu lassen, das zugleich zum Impulsgeber für die Bewegungen ihrer Köpfe wird – um schließlich auch den Impuls dafür zu geben, Lasse und Ingrid freuen sich: "Panflutes and Paperwork" ist für die Premiere 2019 bereit. © Sara Ankedass Myhre und Passage gemeinsam mit den Stäben in ein choreografisches Bild einsteigen, aus dem sich Röhren, Schlangen und andere lebendige Bühnenwesen bilden, die den Raum erobern.

Konstruktion und Dekonstruktion von Erwartungshaltungen sind zwei der zentralen Elemente dieser auf den ersten Blick so einfachen und mit jedem weiteren Blick vielschichtiger und spannungsreicher werdenden Arbeit. „Kennt ihr das?“, fragt Passage irgendwann,Ingrid Berger Myhre mit Lasse Passage auf der Bühne. © Thomas Lenden „du arbeitest an einem Projekt und findest es richtig gut – und am nächsten Tag findest du es richtig scheiße …“ Etwas entsteht und ist dir eigen, und nur wenige Stunden, vielleicht auch nur Momente später ist es dir entglitten, gehört nicht mehr zu dir. Ob es ein Lied, eine Bewegung, ein Gedanke ist. Und dann ist da die Angst, dich damit zu konfrontieren, dass du nicht mehr der/die Erfinder*in, „creator“ oder eben Impulsgeber*in bist. Wie die Stäbe, die du bewegst und die dabei irgendwann beginnen, dich zu bewegen. Oder das Lied, zu dem du tanzt und das nie deines war. „Pull and push“ – Idee, Impuls, Ausführung und Irritation. Du bist immer das Momentum für das Tun des/der anderen, ein Zahnrad vor und nach dem magischen Moment – Instrument (panflutes) und Reflexion (paperwork). Panflutes and Paperwork ist ein bestechend leichtfüßiges und zugleich in all die Tiefen und Unschärfen des Festivals einführendes Duett über die Komplexität jedweder Beziehung abseits starrer Regeln.

Ingrid Berger Myhre & Lasse Passage: „Panflutes and Paperwork“, Performance/Tanz/Musik; ÖEA (engl.) im Rahmen von imagetanz 2020, 8. März 2020, brut im Ankersaal.
Weitere internationale Vorstellungen auf ingridbergermyhre.com.
Die Eindrücke von tanzschrift-Mitarbeiterin Tania Napravnik sind hier zu finden.