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Raw Matters #66, Schikaneder Wien

Anna Possarnig, Maria Shurkal: „The Church of Performance Witness“

Im Rahmen der Reihe „Raw Matters“ wurden am 15. Oktober vier unterschiedliche, thematisch jedoch sich durchaus ergänzende Arbeiten aufgeführt. Zwei strickende Frauen denken über weibliche Immigranten nach. Ein Fagott trifft auf Flamenco. Eine hochschwangere Tänzerin reflektiert über sich und den Kampf Schwangerer in der modernen Welt. Und zwei Priesterinnen beleuchten die Prägungen und Abhängigkeiten ihrer ZeitgenossInnen.

Kristina Malbasic und Mirjana Djotunovic: poetisches Stricken mit Text„Faden. Niti“ nennen Mirjana Djotunovic aka Mustra und Kristina Malbasic ihre literarische Performance. Zwei Frauen sitzen sich gegenüber und stricken alternierend an einem kräftig-roten Etwas, währenddessen die andere Texte auf Deutsch und kroatisch liest. Sie tauschen Strickzeug und Buch immer wieder miteinander, um auf sehr poetische Weise (die Texte stammen aus dem Band „poeSIEja“ der kroatischen Dichterin Marija Peric) die Wahrnehmung von insbesondere ex-jugoslawischen Immigrantinnen, deren Selbstbild und den Einfluss dieser Aspekte auf deren Leben, Arbeiten und ihre Kreativität zu untersuchen. Eine unaufdringliche, gut beobachtete, partiell berührende Arbeit, die den Blick auf das uns täglich umgebende migrantische Sein sensibilisiert.

Den zweiten Teil des Abends gestalten die deutsche Flamenco-Tänzerin Julia Grusek und die in Sevilla geborene klassische Musikerin Angela Valera Casanova. Angela Valera Casanova  und Julia Grusek: Flamenco mit FagottSie beginnt die unbenannte Performance, indem sie ihr Fagott auf der Bühne zusammenzubaut. Dieses komplizierte, einige zigtausend Euro kostende, meist nur in Orchestern gespielte und selten wirklich sichtbare Instrument einmal aus der Nähe in seinen Teilen und im Werden zu einem Ganzen zu erleben, ist beeindruckend. Casanova beginnt, mit den Fingern Rhythmen auf dem Fagott zu trommeln, Grusek kommt hinzu und nutzt ihren Körper und den der Partnerin als Perkussionsinstrument. Beide tanzen Flamenco, mit den Schuhen komplexe Sequenzen stampfend. Der Fagottistin wird das parallele Spielen und Tanzen zu anstrengend; sie spielt fortan nur noch. Es entspinnt sich ein Spiel zwischen diesen beiden scheinbar so weit voneinander entfernten, hier gleichberechtigten kulturellen Welten, das, zeitweise auch gesungen, auf überraschende Weise ein Miteinander, eine gegenseitige Durchdringung ermöglicht. Ein faszinierender Ansatz, vom Publikum bejubelt, der, wie mir Angela Valera Casanova im Anschluss beim kulinarisch begleiteten „come together“ erzählte, zu einer abendfüllenden Performance, um Gitarre und Flamenco-Sänger erweitert, ausgebaut werden soll.

Die Choreografin und Tänzerin Gat Goodovitch, selbst schwanger, denkt über die Zeit der Erwartung nach. Die in Wien bereits bestens eingeführte Tänzerin und Choreografin Gat Goodovitch tanzt in ihrer Arbeit „What about Children?“ hochschwanger und bald nur noch mit Slip und bauchfreiem Top bekleidet. Sie malt sich mit Finger-Malfarben ein buntes Gesicht auf den nackten Bauch, hinterlässt mit ihren bunt gefärbten Händen einen Abdruck darauf. Akustisch begleitet wird die Performerin von verrauschten, englisch gesprochenen Reportagen über die Situation Schwangerer auf dieser Welt. Da war zum Beispiel die Aufzählung der acht Staaten, in denen Schwangere keinerlei Unterstützung für die Zeit um die Entbindung herum erhalten. Nach sieben sogenannten Entwicklungsländern schloss diese Liste mit den USA. Schockierend für uns Mitteleuropäer. „Die Kämpfe moderner schwangerer Frauen“ sind das, womit sich Goodovitch ihren eigenen Worten nach nun, da selbst schwanger, auskennt. Mit dem Song „We are having a baby my baby and me“ bringt sie aber doch noch Vorfreude in den Saal. Eine wertvolle Arbeit. Die Uraufführung der abendfüllenden Performance ist für Juni 2019 im Off Theater geplant.

Maria Shurkhal und Anna Possarnig, zwei in Wien lebende Tänzerinnen und Choreografinnen, in diesem Jahr unter anderem auch in der zweiteiligen Serie „Bauhaus tanzt“ zu sehen gewesen, stellen mit „The Church of Performance Witness“ eine von Trajal Harral, Pussy Riot und Religion inspirierte Arbeit vor, die die mannigfaltigen Erscheinungen, Einflüsse, Ablenkungen, Schein-Erfolge und Ersatz-Befriedigungen, sozialen Medien und asozialen Follower als neue Religion beschreibt. Possarnig, Shurkal mit Models und Video.Eine sexy Priesterin mit Glitter im Gesicht und Sonnenbrille verliest nach einem einführenden Statement die elf Gebote. Zur Seite ist ihr die in eine Palmers-Papier-Shopping-Tasche geschlüpfte „Gläubige“. Mit musikalischer Untermalung präsentieren auf der Leinwand die Models von Victoria's Secret Unterwäsche. Anna Possarnig holt vier ZuschauerInnen auf die Bühne und bittet um die Erweiterung des Catwalk in den Kinosaal hinein, was den unvorbereiteten Laien-Models mehr oder weniger gelingt. Trotzdem amüsant. Dieses Stück nimmt sich viel vor. Die riesige Bandbreite der nur angerissenen Aspekte verlangt Konzentration im Konzept und vom Publikum, das wegen der am Beginn ausgeteilten vierseitigen Ausdrucke Gelegenheit zum Nachlesen hat. Aus diesem Entwurf eine abendfüllende Performance zu entwickeln, halte ich für notwendig.

Raw Matters #66, 15.10.2018, Schikaneder Wien.
Julia Grusek und Angela Valera Casanova: „Faden. Niti“; Kristina Malbasic & Mirjana Djotunovic aka Mustra: ohne Titel; Gat Goodovitch „What about Children?“; Maria Shurkhal und Anna Possarnig: „The Church of Performance Witness“. Fotos: © Raw Matters / Nahabedian.