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Dave St. Pierre: „Néant“, ImPulsTanz Festival

Dave St. Pierre in flatternder Aureole. © Ingrid Florin

„Néant / Leere“ ist ein Stück der Fülle, bei dem gelacht werden muss und geweint werden darf, das einen Kasperl und ein Kind, eine kreischende Frau mit Bart und einen kleinen, zartknochigen Mann, der im magischen Licht wie ein Röntgenbild wirkt, zeigt. „Néant“ ist ein Solo des kanadischen Tänzers und Choreografen Dave St. Pierre, mit dem er im Odeon das ImPulsTanz Festival 2018 eröffnet hat. Nicht alle Zuschauer*innen konnten die abwechslungsreiche Show genießen.

Der Künstler als Videowand. Das Lichtdesign färbt ihn um. Bilder von Karolina MiernikDer Zufall wollte es, dass die Show bereits begonnen hatte, als ich meinen Platz gesucht habe. Doch die Bühne war leer, bis auf fünf aufgeblasene Plastikrehe und einige rosa Luftballone, die sich, näher besehen, als Peniskarikaturen in unterschiedlichen Größen entpuppten. Die Bühne ist leer, denn Dave St. Pierre, mit verstrubelter, lockiger weißblonder Perücke, sitzt auf meinem Platz. So niedlich wie diese Figur ist, wie bereitwillig sie auf den nächsten freien Sitz rutscht, als ich meinen, genau meinen, Sitzplatz beanspruche, nimmt mich für ihn ein. Dass die kleine Frau mehr kreischt als spricht, ändert nichts daran. Sie steckt splitterfasernackt in einem durchsichtigen Kleidersack und ärgert sich, weil das Stück noch nicht begonnen und zeigt mir ihren nackten Hintern, ein hübsches Popöchen, und ich darf es fotografieren. Ich kann mich nicht weigern, aber ich darf ihr (ihm) erklären, dass das Stück erst wirklich beginnt, wenn sie endlich auf die Bühne geht, denn es ist die Show von Dave St. Pierre: „Und das bist du.“ „Na gut.“ Unter ständigem Gekreisch trippelt und hüpft Dave St. Pierre hinunter in den Bühnenraum.

Der Prolog ist zu Ende, eine explosive Mischung aus sarkastischem, anarchischem Witz, Kindergartenspielen mit dem Publikum (dafür ist die kleine Blonde zuständig) und, wenn die Perücke in die Ecke fliegt und der zerbrechlich wirkende Mann in einer Aureole, die der Ventilator mit einem flatternden Tuch erzeugt, steht und sich durch fantastische Lichtspiele (Hubert Leduc-Villeneufe) immer wieder verändert, ernsthaften Passagen. Auch zum Gerippe färbt ihn Lichtdesigner Leduc-Villeneuve. Fotografiert von Karolina Miernik
Dave St. Pierre sucht seine Identität, fragt sich und auch das Publikum, bin ich ein Kasper, ein kindlicher Spaßmacher, der sich selbst nicht schont, eine Frau, ein Entertainer? Oder bin ich ein Mann, ein Künstler, ein großartiger Tänzer? Wie großartig dieser Tänzer sein kann, zeigt er mit angedeuteten Ballettgesten, welch einfallsreicher Performer er ist, mit wackelndem Hintern und im Sack hüpfenden Schritten.

Von dem, was er fordert, bekommt er nicht genug, den Applaus, die Liebe des Publikums und die Kommunikation mit diesem. Der Mann in der Aureole. Von Nägeln aus Licht durchbohrt. © Karolina Miernik / ImPulsTanz Er will Mobiltelefone geborgt erhalten, um seine Nacktselfies herzuschenken, verlangt, dass den Rehen Namen gegeben werden, um ihnen dann mitleidlos die Luft auszulassen. In tragischer Pose sinken sie zu Boden, strecken die Beine, sterben einen langsamen Tod. Die kleine Blonde bleibt ungerührt, zwinkert dem Publikum zu und gürtet sich als Mann zum letzten Flug am Seil. Es bleibt bei den Flugversuchen, doch Sentimentalität und Melancholie werden gleich wieder weggewischt.

Der Applaus hält sich in Grenzen, und die blonde Springteufelin, neuerlich im Publikum, also neben mir sitzend, nimmt mir den, nach zwei Stunden, auf der Zunge liegenden Vorwurf vorweg: „Zu lang, viel zu lang!“ Und das Gekreische im hohen Raum des Odeon kaum verständlich, möchte ich hinzufügen. Doch mit treuherzig blickenden Kinderaugen flüstert sie mir ins Ohr: „Aber du schreibst gut. Wirst du Gutes schreiben?“ Dave St. Pierre, fast privat.   © Radio Canada / Olivier Lalande. Dave St. Pierre ist auch ein Zauberer, ein Magier, der sich auf die Kunst der Täuschung versteht. Er liebt das Publikum, doch rennt er ihm nicht hinterher. Er riskiert dessen totale Ablehnung und die eigene Lächerlichkeit. Entweder man verfällt ihm oder entfernt sich frühzeitig aus dem Theater. „sans compromis / ohne Kompromiss“ ist das Motto seiner Compagnie.

Dave St. Pierre. „Néant“, Choreografie und Performance: Dave St. Pierre; Musik: Stéfan Boucher; Lichtdesign: Hubert Leduc-Villeneuve; Videodesign: Alex Huot. 12. Juli 2018, Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.
Eine weitere Vorstellung am 16. Juli 2018, Odeon.