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Boris Charmatz: „10000 Gestes“, Festwochen

23 Tänzer*innen, und keine Geste wiederholt sich. © Laurent Philippe

Der Tänzer und Choreograf Boris Charmatz schickt 23 Tänzer*innen auf die Bühne, um 10000 Gesten zu zeigen. Jede und jeder hat ihr / sein eigenes Gestenrepertoire, keine Geste darf sich wiederholen. Vom Publikum ist die Behauptung nicht zu verifizieren, weiß es doch nicht einmal, was Charmatz genau unter einer Geste versteht. So bevölkern die 23 Mitwirkenden, in unterschiedliche Kostüme gekleidet oder halb bis dreiviertel nackt, die Bühne und spulen ihr Vokabular ab. Das ist anfangs spannend, mitunter einschläfernd, für manche Zuschauer*innen hinreißend, für andere unwichtig.

Boris Charmatz, Jahrgang 1973, war in den 1990er Jahren eine Gallionsfigur der „nouvelle vague“ des Tanzes, eigentlich des Nicht-Tanzes (non dance) und versteht es immer noch, sein Publikum durch Knalleffekte zu begeistern. Die Tänzer*innen wirbeln also durcheinander, knallen scheinbar gegeneinander, jagen hintereinander her, werfen sich zu Boden, springen auf und stehen allesamt abrupt erstarrt zu Statuen, brechen in wildes, knirschendes, hechelndes Geheul aus. Als Begleitmusik dient Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ (d-Moll, Herbert von Karajan dirigiert die Wiener Philharmoniker). Die Performer*innen bewegen sich zeitweise im Einklang mit der Musik, laufen und purzeln auch, ohne Musik und Rhythmus zu beachten. Wenn sie in wildes Gebrüll und Geheul ausbrechen, hat Mozart keine Chance mehr.Immer auffallend eine Tänzerin als Groteskclown @ Laurent Philippe

Es wird gelacht und gerufen, gegackert und miaut, kleine Erzählungen bilden sich von Liebe und Streit, die Lage wird immer unübersichtlicher, Krieg liegt in der Luft, die Hölle scheint ausgebrochen.
Die Horde  durchbricht die vierte Wand, stolpert und klettert in die Publikumsreihen, einzelne legen sich schwitzend auf fremde Körper, greifen in die Haare, legen die Hände auf nackte Haut und benützen die Zuschauer*Innen als Objekte ihres Exzesses. Das kommt einer Vergewaltigung gleich, ist so nicht ausgemacht.

„Das gehört dazu“ ätzt eine Frau neben mir, weil ich mich nicht missbrauchen lassen will, fremde Hände tatschen mich nicht an, fremde Füße strecken sich mir nicht ins Gesicht. Diesen Übergriff lerne ich ab.

"10000 gestes ", Manchester International Festival, 2017. © Tristram KentonCharmatz will das, er nervt das Publikum mit Kreischen und Knirschen aus hechelnden Kehlen, weil er weiß, dass es ihm trotz allem zu Füßen liegt. Er kann schöne Sprüche klopfen, die keinen Sinn ergeben – „Das Herz des Tanzes liegt an den Rändern; bei den Menschen, die nicht tanzen, aber eigentlich doch …“ –, benützt Mozart, um die Gemüter friedlich zu stimmen und scheut auch Grenzüberschreitungen nicht. Die Missachtung der Rollenaufteilung im Theater – hier die Zuschauer in den Reihen, dort die Künstler*innen auf der Bühne – hat jnichts mit der so gern zitierten Freiheit der Kunst zu tun. Es mag dem Trend einer fantasierten Égalité entsprechen, alle sind alles, aber muss man sich den Körperkontakt mit fremden, schwitzenden Leibern gefallen lassen? Meine Antwort ist: „Nein“. Zumal dieser Überfall völlig sinnlos ist, mit der Performance nichts zu tun hat, sie weder verändert und schon gar nicht verbessert. Das Publikum will tolerant sein, findet es lustig. Doch mit Toleranz hat diese rücksichtslose Attacke nichts zu tun, eher mit Machtausübung und Dominanz.

Es gibt auch schöne Momente in diesem Chaos aus Gesten, etwa wenn ein einsamer Tänzer sich langsam und elegant im Scheinwerferlicht bewegt, während die anderen ihr Belästigungsritual abspulen, oder alle 23 während des Sopransolos im Agnus Dei des Requiems bewegungslos an der Wand stehen.Die clowneske Tänzerin im roten Glitzerkleid, von allen verlassen. © Ursula Kaufmann Von Zeit zu Zeit darf man durchatmen in dieser Show der Kontraste, in diesem Tohuwabohu der Bewegungskakophonie. Charmatz weiß die Akzente zu setzen, doch er weiß auch, wie man die Kunst zur Manipulation einsetzt.
Ein chaotisches Tanzstück, das einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, das unterhaltungssüchtige Publikum befriedigt, jedoch keinen tieferen Eindruck, fast ein wenig Ekel hinterlässt. Ob uns diese „10000 Gesten“ heute noch etwas zu sagen haben, bleibt eine offene Frage.

Auf engem Raum brechen die Aggressionen aus. © Laurant PhilipeFurore machte der 19jährige Tänzer mit seiner ersten Choreografie „À Bras le Corps“. Noch heute findet sich das Duett im Boxring im Repertoire großer Ballettcompagnien. Auch bei den Wiener Festwochen wird es wieder zu sehen sein. Wenn Boris Charmatz am Samstag, 16. Juni 2018 das Publikum zum „Tag eines Tänzers“ in die Gösserhallen lädt, wird er zum Abschluss mit seinem ersten Sparringpartner, Dimitri Chamblas, wieder einmal „À bras le corps“ rufen, was so viel heißt wie „den Körper packen“.

Boris Charmatz / Musée de la danse: „10000 gestes“, Uraufführung im September 2017 an der Volksbühne Berlin. Eine Koproduktion mit den Wiener Festwochen und vielen anderen. 13. Juni 2018, Gösserhallen, im Rahmen der Wiener Festwochen.
Weitere Vorstellungen: 14. und 15. Juni 2018.
„A Dancers Day“, 16. Juni 2018, Gösserhallen.