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Alexei Ratmansky: „Kallirhoe“, Liebe und Krieg

Ballett mit happy End: Kallirhoe.

Alexei Ratmansky hat einen antiken Roman verfilmt. Pardon, das ist Unsinn. Alexei Ratmansky ist Choreograf und hat mithilfe des Dramaturgen und Librettisten Guillaume Gallienne aus einem Abenteuer- und Liebesroman ein Ballett geschaffen. Kallirhoe, der Name der Hauptfigur und der Choreografie, feierte als Einstandsgeschenk der neuen Ballettdirektorin, Alessandra Ferri, mit dem Wiener Staatsballett Europapremiere. Madison Young, Erste Solotänzerin und Victor Caixeta, Erster Solotänzer, glänzten als Liebespaar. 

Die Erste Solotänzerin Madison Young ist Kallirhoe.Mit den handelnden Personen, vor allem rauflustige Männer, denen das Testosteron aus allen Muskeln quillt, kann man sich nicht befassen. Es sind zu viele. Allein 13 Solistinnen sind auf dem Programmzettel aufgeführt. Dazu gesellen sich Bürgerinnen aus Syrakus und Milet, Hofdamen mehrerer Herrscher und ihrer Gattinnen, Bürger, Piraten, Grabräuber, Gefangene, Wachen, und zwei wild kämpfende Armeen, wenn die Ägypter aus dem Nichts erscheinen und die Babylonier angreifen. Und alle, echt, alle diese von Kostüm- und Bühnenbildner Jean-Marc Puissant appetitlich und bunt eingekleidet, sind hinter der Titelheldin her. Heldin ist Kallirhoe eigentlich keine, denn sie wird herumgeschubst und angegrapscht, verkauft und verheiratet. Das verliebte Paar: Kallirhoe und Chaireas (Madison Young, Victor Caixeta).Gefragt, wie ihr das alles gefällt, wird sie nicht. Sie ist schön, schöner noch als Aphrodite, von der eine langsam verwitternde Maske an der Wand hängt. Diese Schönheit macht die Männer gierig. So wird sie auch durch eine Intrige ihrem frisch Angetrauten, der sie, wie sich bald herausstellt, gleich geschwängert hat, aus den Armen gerissen. Er soll sie nicht allein haben, die anderen wollen auch. Und so glaubt er den verleumderischen Stalkern und stößt sie zu Boden. Kein Mucks mehr. Tot! Nicht wirklich. Der Schein trügt, in der Grabkammer erwacht die Schöne aus dem Koma und wird samt den Kisten mit den Grabbeigaben von Piraten geraubt. Margarita Fernandes ist Kallirhoes Magd (namenlos).Die abenteuerliche Reise führt sie nach Milet (in der heutigen Türkei), wo sie zur Bigamistin wird, weil Herr Dionysios, der sie gekauft hat, ihr sofort verfallen ist. Sie ahnt nicht, dass ihr erster Mann, Chaireas, von Reue getrieben, bereits in der Nähe ist. Leider sitzt er im Gefängnis und Kallirhoe sieht machtlos zu, wie die Männer zu dritt raufen. Deus ex machina: Der unvermittelte Angriff ägyptischer Truppen bringt die Rettung. Die Leichen werden fortgeschafft, die Liebenden vereint. Alles ist gut. Applaus und Hochrufe.
Das als Operette ausgestattete Ballett Kallirhoe hat Alexei Ratmansky 2020 für das American Ballet Theatre (ABT) geschaffen. auch der König von Babylon (Maarcelo Gomes) hat mehr als ein Auge auf Kallirhoe (Madison Young) geworfen.Mehr als 20 Jahre hat Ballettdirektorin Alessandra Ferri der Company als Principal Dancer angehört. Ratmanskys huldigt dem klassischen Ballett, dessen strengen Kanon er mutig erweitert. Komplizierte Schrittfolgen, eindrucksvollen Hebungen, vom Geschlecht unabhängige Pas de deux und Trios, kräftige Sprünge der Männer, weiche, Wellenbewegungen der gehobenen Arme im Damencorps, geometrische Muster in Arm- und Beinbewegungen bei den Gruppenszenen, volkstänzerische Einlagen, stilvolle Neoklassik, erweitert mit überraschenden Variationen und Positionen, von den Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts mit Anmut und Präzision gemeistert. Sich einzig auf den Tanz zu konzentrieren macht Freude, jede Bewegung fesselt. Ratmansky schont die Tänzer*innen nicht.
Festliche Stimmung beim König von Babylon. Seine Frau tanzt inmitten ihrer Hofdamen. (Gaia Fredianelli, Ionna Avraam, Nataya Butchko)Doch die Geschichte lässt mich kalt, zu dick der Zuckerguss, zu proper und niedlich die Kostüme, zu eindimensional, das Personal, zu plump das Handlungsgerüst, zu nahe an Bollywood das bunte Treiben. So sehenswert jede Schrittkombination, jede Geste, jede Verwicklung der Gliedmaßen ist, dickflüssig ist der gesamte Abend. Und von glühender Liebe keine Spur, die Begierde der Raufbolde hat Vorrang. Ich hechle der Handlung hinterher und versuche zu erraten, welcher von den angestellten Bewerbern gerade jetzt um Kallirhoes Gunst kämpft.
Wenn schon mit dickem Pinsel dick aufgetragen, dann auch bei der Musikwahl. Alessandro Frola ist Dionysios von Milet, der Kallirhoe den Piraten abkauft.Komponist Aram Chatschaturjan (1903–1978) lässt ein großes Orchester auffahren, spart nicht an Pauken und Trompeten und flicht genügend volkstümliche Weisen ein, um die Ohren zu erfreuen. Arrangiert von Philip Feeney, sind die aus Funk und Film bekannten Ohrwürmer aus Chatschaturjans Ballett Gayanneh und der entsprechenden Suite mit Klavierwerken ergänzt. Nicht nur Säbeltanz ohne Säbel reißt das Publikum mit. Im zweiten Akt darf sich Madison Young in der Titelrolle ein wenig ausruhen, die Männer sind am Werk, bis es zum allgemeinen Versöhnungstanz kommt und die Liebenden vereint nach Hause reisen dürfen. Madison Young im Pas de deux mit Victor Caixeta.Shakespeare hat dieses glückliche Ende seinem Paar nicht gegönnt.
Mit dem Tod von Romeo und Julia endet die Ähnlichkeit mit Kallirhoe und Chaireas
Zurück zum Film. Jetzt ohne Irrtum. Librettist und Dramaturg Gallienne, in Frankreich auch als Filmregisseur und Darsteller in der Comédie-Française bekannt, blättert eine bunte Bilderfolge auf, als würde er nein Roadmovie abspulen. Ganz Syrakus feiert die schöne Kallirhoe und das Publikum feiert Madison Young, die die Schäönheit verkörpert.
Was viel wichtiger ist als diese pastöse Bilderfolge, ist die Leistung des Wiener Staatsballetts unter der neuen Direktorin. Schon in kurzer Zeit hat Alessandra Ferri den Tänzer*innen die Freude am Tanz zurückgegeben und Ballettfreundinnen dürfen hoffen, dass die Compagnie bald wieder das unter Manuel Legris gewohnte Niveau erreichen wird, ist anzunehmen. Die Blutauffrischung durch die Neuengagements tut dem Ensemble ebenso gut, wie sie das Publikum erfreut.

Kallirhoe, Ballett in zwei Akten. Europäische Uraufführung am 19. Oktober 2024.
Choreografie: Alexei Ratmansky
In der Titelrolle Madison Young mit Victor Caixeta (Chaireas), der sein Hausdebüt gefeiert hat, wie auch Alessandro Frola, Dionysios von Milet und Marcelo Gomes, König von Babylon.
Dramaturgie & Libretto: Guillaume Gallienne nach dem Roman Kallirhoe von Charition von Aphrodisias.
Musik von Aram Chatschaturjan, arrangiert von Philip Feeney. Musikalische Leitung: Paul Connelly.
Bühne & Kostüme: Jean -Marc Puissant; Licht: Duane Schuler. Orchester der Wiener Staatsoper, Wiener Staatsballett in der Staatsoper. Folgetermine.  
Fotos: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor.