
Oleg Soulimenko, brut: Die Walze rollt und rollt

Der Tänzer und Choreograf Oleg Soulimenko sitzt am Frühstückstisch, löffelt seinen Brei, liest die Nachrichten und muss weinen. Gewalt im Haus und auf der Straße, Gewalt an der Kriegsfront und zwischen Mann und Frau. Oleg denkt nach, wie viel Gewalt steckt in den Menschen? Er stellt Fragen und sucht nach Antworten und geht damit auf die Bühne. Roll Over and Over an Over heißt die an Metaphern reiche Choreografie, die im brut das Publikum irritiert und herausfordert.
Ein Minimalist ist der gelernte Bauingenieur nicht. Sämtliche Räume im brut, innen und außen werden genützt. Das Publikum wandert von draußen nach drinnen und wieder nach draußen, findet versteckte Ecken, die als vom geisterhaften Gärtner Oleg als Dschungel gestaltet sind und mit bunten Getränken unter der Discokugel als Showbühne genutzt werden. Nach der Wanderung, den erzählten Geschichten von Gewalt und Grausamkeit, der gezeigten körperlicher Gewalt stellt Moreno als Showgirl direkte Fragen an das Publikum, die sich jede / jeder selbst beantworten muss. Wie viel Gewaltpotenzial steckt in mir?
Niemand muss ein Bekenntnis ablegen, doch mit diesen auf Zettel geschriebenen oder ins Publikum gesprochenen Merksprüchen, den Halbsätzen aus Geschichten, den Zweifeln und angeschnittenen Themen wird ein Selbsterforschungsprozess in Gang gesetzt, dem sich niemand wirklich entziehen kann.
Objekte, mitgebracht, live zusammengebaut oder auseinander genommen spielen immer mit, gleichberechtigt mit den Tänzerinnen / Performerinnen. Diesmal ist es eine hohle Walze, die rollt und rollt, ein materielles Synonym für die Gewalt, die immer neue Gewalt gebiert. Das rollende Objekt – Alfredo Barsuglia hat es entworfen und gebaut – hat zwei Eingänge und bietet den Performerinnen genügend Platz, um als Schutzraum, Versteck und auch als circensischer Spielplatz zu dienen. Die Walze steht für das Böse, doch sie ist getarnt, mit gemusterten Stoffen und Fellstücken, als mitleidlose Angreiferin ist sie nicht sofort erkennbar und was in ihrem Bauch passiert, sehen wir nicht.
Das Vorspiel im Hof ist laut. Es kreischt und schabt, kracht, klirrt und splittert. Als schwarzer Mann im Hoodie schleift Frederik Marroquín Blechplatten über den harten Boden, versucht sie zusammenzubauen, immer wieder fallen sie um. Inzwischen versucht Dafne Moreno einen Sein zu zertrümmern und wirft mit Holzstückchen und Steinbrocken nach dem Kapuzenmann. Später bläst Franz Hautzinger schrille Trompetentöne ins Auditorium. Gewalt hat viele Gestalten. Szene reiht sich an Szene, das Publikum wandert, angetrieben von den schrillen Trompetentönen Hautzingers, mit den Performerinnen von Ort zu Ort, versucht sich einen Reim auf die aufeinanderfolgenden Teile zu machen. Sind die zu einem kleinen Berg geschichteten Zuckerl im Glitzerpapier als Trost gedacht oder dienen sie als Warnung vor Verdrängung? Kann man, darf man die Wirklichkeit, Gewalt und Grausamkeit mit Schokolade versüßen?
Während Moreno und Marroquīn mit vollem Körpereinsatz mitten im Publikum agieren, sprechen, schreien, raufen, tanzen, bleibt Regisseur und Performer Soulimenko eine ephemere Figur, taucht als geisterhaftes Wesen hier und da und dort im Hintergrund auf, tanzt selbstvergessen oder mimt im Dschungel den emsigen Gärtnert. Über ihm zeigt ein Video, dass es in der Natur, die weder Empathie noch Mitgefühl kennt, darum geht, zu fressen oder gefressen zu werden. Menschen haben mehr Möglichkeiten. Das Wechselbad der Gefühle mit bedrängenden, unangenehmen und auch heiteren, unterhaltsamen Szenen endet gewaltlos mit einem Tanz im Mondenschein.
Oleg Soulimenko: Roll Over and Over and Over
Konzept, künstlerische Leitung & Performance: Oleg Soulimenko
Choreografie, Performance, Text: Dafne Moreno, Frederik Marroquín ;
Musik & Trompete: Franz Hautzinger; Textentwicklung: Rosemarie Poiarkov; Bühnenbild & Objekte: Alfredo Barsuglia; Licht: Sveta Schwin, Kostüm: Ruth Erharter; Assistenz Bühnenbild: Simon Reitmann, Dramaturgische Beratung: Chris Standfest; Stimmcoaching: Lau Lukkarila ; Produktionsassistenz Arina Nekliudova
Eine Koproduktion von Magic Vienna und brut Wien. Premiere: 7.5.; Folgevorstellungen: 8., 9., 10. Mai 2025.
© Christine Miess