
Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui und TanzLinz

Der weltberühmte Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui hat mit Tanz Linz zwei seiner erfolgreichen Choreografien einstudiert: Fall und Orbo Novo. Am ersten März ist die Premiere im Musiktheater zurecht gefeiert worden. Das Spitzenensemble von Tanz Linz hat sich in Bestform gezeigt und in den beiden Werken von Cherkaoui seine unnachahmliche Bandbreite vom Spitzentanz bis zur Akrobatik ausschöpfen können.
Spitzentanz ohne Spitzenschuhe. Auf der weißen Bühne wellt sich die Seitenverkleidung im Wind, die Tänzerinnen lassen sich von diesem heben, stemmen sich dagegen, vertrauen auch den starken Armen des Partners und auch der Musik, die sie trägt. Arvo Pärt hat Cherkaoui gewählt, ikonische Stücke wie Fratres oder Spiegel im Spiegel. Alles fließt. Tanz pur, ohne Hintergründigkeit. Gestreckte Arme und Beine, Körperspannung und Energie, Elastizität und Geschmeidigkeit. Tanzkunst, wie sie auf der Bühne des Wiener Staatsballetts schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Die Lichtreflexe malen flüchtige Bilder, zeichnen einen Wald, den Sonnenuntergang, die Jahreszeiten. Die Tänzerinnen lassen die Haare wehen, schweben elegant und fallen weich wie Blätter im Herbst; sind Elfen, Trolle und Feen. Im Gegenlicht wird das Ensemble zu einer Linie gestochen scharfer schwarzer Schatten, um bald danach wieder in Trios und Duos zu zerfallen. Solo und Gruppentanz, alle übereinander geschmiegt oder jede(r) einzeln. Grenzenloser Tanz, auch die Gedanken werden frei. Reiner Genuss und Glücksgefühle sind ebenso erlaubt wie Turnübungen der Synapsen.
Die Choreografie Fall hat Cherkaoui 2015 für das Opera Ballet Vlaanderen (Antwerp/Ghent) kreiert. Ein Werk, das nicht in den Archiven schlummern soll. Orbo Novo (Neue Welt) ist 2009 vom Cedar Lake Contemporary Ballet (New York) uraufgeführt worden. Der polnische Komponist Szymon Brzóska, dessen spezielles Interesse den Synergien zwischen Musik und Tanz, Theater und Film gilt, arbeitet immer wieder mit Cherkaoui zusammen. Für Orbo Novo hat er ein Klavierquintett komponiert, das er nun, 15 Jahre später, für das Streicherensemble des Bruckner Orchesters orchestriert und teilweise auch neu komponiert hat. Zum Tanz und zur Musik gesellt sich auch die Sprache, die die Tänzerinnen nach dem Training mit Eva-Maria Aichner verständlich über die Rampe bringen.
Ein wichtiger Teil des Stückes ist das Buch My Stroke of Insight (Deutsch: Mit einem Schlag, Knaur, 2010) der Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor, in dem sie über den temporären Ausfall ihrer linken Gehirnhälfte nach einem Schlaganfall berichtet. Die Dichotomie der beiden Gehirnhälften (schnell und laienhaft unterschieden: rechts Bilder, links Wörter) ist Thema und Metapher von Orbo Novo. Die Tänzerinnen zitieren auf Deutsch und Englisch (mit Übersetzung auf den gut sichtbaren und die Nachbarin nicht störenden Schirmen vor jedem Sitz) Teile aus Taylors tagebuchartigen Aufzeichnungen. Sie kann nicht mehr sprechen, versteht auch Sprache nicht mehr, kennt auch die Grenzen ihres Körpers nicht mehr, hat kein Raumgefühl, ist nicht mehr die Choreografin ihres Lebens. Sie beschließt, sich auf dieses neue Leben in einem Nirwana einzulassen, das Glücksgefühl eines Friedens zu genießen. Schreibt sie zumindest nachträglich. Nach einer Tumoroperation dauerte es acht Jahre, bis sie wieder vollständig hergestellt aus dem Nirwana zurückgekehrt war. Dass die beiden Hirnhälften nicht mehr miteinander konkurrierten, das Gedankenspiel, die vielen Thesen und Regeln ausgeschaltet waren, hat sie als tiefen inneren Frieden empfunden, deshalb meint sie, wenn alle „den tiefen, inneren Friedenskreislauf der Gehirnhälfte steuern und so mehr Frieden produziert würden, dann sollte auch die Welt friedlicher werden. Ein hübsches Gedankenspiel. Doch ein Spiel.
Noch ist es nicht so weit und nach der anfänglichen Komik, wenn Jill Taylor stottert und bellt und sich selbst grenzenlos fühlt, wird es in der Musik und auf der Bühne düster. Bühnenbildner Alexander Dodge hat einen nahezu unendlich großen, vielseitig verwendbaren Paravent gebaut, der die Bühne beherrschen und auch wieder schrumpfen kann. Die Konstruktion ist ein Haus mit vielen Fenstern, ein Klettergerüst, eine Wand, die trennt, ein Gefängnis, das manche entlässt, aber andere behält, eine Welt mit Grenzen und eine (neue) Welt ohne Grenzen. Wenn durch den Text klar wird, wovon die Choreografie erzählt, wird es unheimlich. Die Hälften fallen auseinander, die Tänze werden von Zuckungen gebeutelt, die Töne aus dem Orchestergraben lassen schaudern. Es geht ja nicht nur ums Gehirn, doch vordergründig eben schon, und dieses Thema bohrt sich auch ins eigene Gehirn und unter die Haut. Die Stacheln bleiben noch lange spürbar. Das Gefühl des tiefen Friedens wird am Ende sichtbar. Doch um ihn auch selbst zu spüren, bedarf es einiger Übung. Dass dann der Zug zurück nach Wien kurz nach Linz anderthalb Stunden bewegungslos auf den Gleisen liegt, weil die Folgen eines Unfalls beseitigt werden müssen, scheint mir genau passend. Die Neue Welt ist noch sehr, sehr weit entfernt, wir stehen auf den Gleisen und kommen nicht voran.
Seit der Choreograf Jochen Ulrich († 20012) vom Tiroler Landestheater 2006 nach Linz übersiedelt ist, kann von einem stetigen Aufstieg der Tanzcompagnie berichtet werden. Die letzten Sprossen hat das aktuelle Ensemble von 17 Tänzerinnen unter der Leitung und nun Direktion von Roma Janus errungen. Es gibt kaum eine Compagnie ähnlicher Größe, die TanzLinz den Ballettschuh reichen kann. Und, wie gesagt, auch mit nationale Compagnien an großen Häusern können sich die Linzerinnen durchaus messen.Die beiden von Sidi Larbi Cherkaoui in seiner kreativen Phase geschaffenen Stücke des aktuellen Doppelabends, Fall / Orbo Novo, funktionieren einzeln im Detail wie gemeinsam im großen Ganzen. Unterschiedliche Perspektiven, Farben und Gefühlslagen rufen das gleiche Echo hervor und Arvo Pärts spezielle Minimalmusik wartet direkt auf die Fortsetzung durch Szymon Brzóska. Nicht den Künstlerinnen auf der Bühne sind Blumen zu streuen, Tulpen und Narzissen gehören auch in den Orchestergraben, wo Marc Reibel nicht nur die Streicherinnen des Brucknerorchesters dirigiert, sondern im Stück Fall auch selbst am Klavier sitzt. In Orbo Novo tut dies Benedikt Ofner. Die Solovioline in Fall spielt Tomasz Liebig; in Orbo Novo gesellt sich auch die Viola, gestrichen von Laura Jungwirth.
Ein beglückender Abend, den auch das Publikum mit Begeisterung würdigt..
Sidi Larbi Cherkaoui: Fall / Orbo Novo
Musik Arvo Pärt / Szymon Brzóska
Ein Doppeltanzabend mit TANZ LINZ und dem Bruckner Orchester Linz
Musikalische Leitung: Marc Reibel; Violine Tomasz Liebig; Viola: Laura Jungwirth; Klavier: Marc Reibel / Benedikt Ofner.
Tanz: Das Ensemble in Kooperation mit der Tanzakademie OÖ.
Bühne: Sander Loonen / Alexander Dodge; Lichtdesign: Fabiana Piccioli / Jim French; Kostüme: Kimie Nakano / Isabelle Lhoas, Frédérick Denis
Premiere im Musiktheater, 1.3. 2025; Weitere Vorstellungen ab 7. März
Fotos: © Philip Brunnader