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Trajal Harrell: „The Köln Concert“, ImPulsTanz

"The Köln Concert" von und mit Trajal Harrell.

Voguing und Posieren auf dem Catwalk als Charakteristik von Trajal Harrells Körpersprache ist nur an der Außenhaut gekratzt. Er benützt die Elemente aus der queeren New Yorker Subkultur der 1980er-Jahre, doch er bleibt nicht an der oft recht spaßigen Oberfläche. Was er mit dem beeindruckenden Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble zum betörenden Gesang von Joni Mitchell und den Improvisationen des Pianisten Keith Jarrett zeigt, ist elementar und magisch, flirrend leicht und bedrückend schwer, grotesk und gespenstisch. Der Abend „The Köln Concert“, im Rahmen von ImPulsTanz im Volkstheater gezeigt, ist ein Erlebnis.

Ein irritierendes Panoptikum zu 50 Jahre Musik aus vergangener Zeit.Als Geist steht der Tänzer und Choreograf an der Rampe, während sich der Saal füllt, sich die Menge draußen, die vergeblich auf Einlass gewartet hat, allmählich zerstreut. Als Gespenster tanzen auch die sechs anderen Mitglieder des Züricher Dance Ensembles, vier Männer, zwei Frauen. Gespenstisch ist auch die Musik. Sie stammt aus längst vergangener Zeit, aus den 1970er-Jahren. Joni Mitchell, vom Magazin Rolling Stone „one of the greatest songwriters ever genannt, wird im nächsten Jahr 80; Keith Jarrett erreicht das Greisenalter 2025. Beide sind Ikonen, überlebende Ikonen einer selbst schon alt gewordenen Generation. Ihre Kunst ist archiviert, damit sie nicht verloren geht. Wiederholbar ist sie nicht, wir hören ein Geisterkonzert, sehen einen Geistertanz, irre, komische und traurige Gestalten, die sich einzeln bewegen und auch am Ende im Kreis Individuen bleiben. Sieben Individuen, die sich durch das Leben kämpfen, bemüht, sie selbst zu sein, egal was andere denken.
Die beiden Frauen und fünf Männer bewegen sich exaltiert und expressiv in ihrer jeweils speziellen Körpersprache, sind schlapp und energiegeladen zugleich in diesem irritierenden Panoptikum.  Choreograf Trajal Harrell tanzt mitten im Ensemble.
Die vier Lieder von Joni Mitchell – "Oh, and love can be so sweet …" –, begleitet ein Catwalk in bunten Kostümen, die oft nur als Attrappe vorgehängt am Körper baumeln, der sich zum synchronen Gruppentanz formiert. Im zweiten Teil, zum Klavierspiel Keith Jarretts, mischen sich Bewegungen des Modern Dance und aus der Tanzgeschichte ein. Die Körper der Tänzer und Tänzerinnen sind die Aussage. Sie schweben, tänzeln, posieren, die Arme erhoben und abgewinkelt, bewegen sich zögernd, mit holpernden Schritten an den Sitzenden vorbei, verschwinden im Hintergrund, damit der / die nächste auf den Wellen der Musik dahingleiten kann. Schwarz-weiß, bunt und auch einheitlich schwarz – die Kostüme vermitteln die Atmosphäre.Richtig, die einen stolpern, andere gleiten. Keith Jarretts Auftritt in Köln hätte fast nicht stattgefunden. Jarrett war mit seinem Produzenten Manfred Eicher (ECM Records) aus der Schweiz angereist, war müde und erschöpft, und das ausgesuchte Klavier war nicht da. Ein verstimmter Stutzflügel mit klemmenden Pedalen wartete auf den Künstler, der noch nichts gegessen hatte. Nach gutem Zureden und dem Hinweis auf das mit 1400 Zuhörer:innen ausverkaufte Konzert im Kölner Opernhaus setzte sich Jarrett ans jämmerliche Klavier und passte sein Spiel den eingeschränkten Bedingungen an, „beschränkte sich weitgehend auf die mittleren und tiefen Tonlagen, wobei er wiederholende Muster bevorzugte.“ (Wikipedia). Die Tanzkörper wollen posieren und irritieren, die Musik ist absichtslos. Dass der Mitschnitt des „Köln Concert“ auch fast 50 Jahre später als die „meistverkaufte Platte aller Zeiten“ gilt, konnten weder Jarrett noch Eicher ahnen. Die Tänzer:innen auf der Bühne lassen die Geistermusik wieder lebendig und real werden. Die Tänzer:innen interpretieren Jarretts Musik nicht, es scheint, als ob sie genau so tanzen würden, wie der Pianist in Köln gespielt hat und selbst sagt, ohne Plan, „aus dem Nichts heraus, Musik zu schaffen.“ Doch Harrell hat ein Gruppenstück geschaffen, das muss geprobt werden und kann auch wiederholt werden. Ob man auf allen Stationen der in Wien begonnenen Tournee exakt den gleichen Bewegungsablauf sehen wird, ist nicht sicher. „The Köln Concert“ ist 2020 in Zürich uraufgeführt worden. Seit 2019 ist Harrell Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich und leitet das Zürich Dance Ensemble, in das auch viele der Tänzer:innen, mit denen Harrell seit vielen Jahren gearbeitet hat, als feste Ensemblemitglieder integriert sind. Panoptikum im Geisterhaus. Am Ende, wenn Jarrett seine Melodie im Pianissimo verklingen lässt, wird aus den Solist:innen eine Gemeinschaft. Eng umschlungen stehen alle sieben in einer tiefen Verbeugung an der Rampe. Die drei Sekunden Stille, um aus dem Geisterhaus aufzutauchen, Fenster und Türen in die Realität zu öffnen und sich wieder zu festigen, sind mir nicht gegönnt. Es scheint, als hätten es plötzlich alle eilig, das Erlebnis zu löschen. Der letzte Ton schwebt noch im Raum, der imaginäre Vorhang ist noch nicht gefallen, schleunigst muss die geschaffene Atmosphäre zerstört werden, um lautstark zu zeigen, wie begeistert man ist. Dank und Belohnung für die Tänzer:innen und das Team würden auch nach einer Atempause erfreut angenommen werden.

„The Köln Concert“ von Trajal Harrell /Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble.
Zur Musik von Keith Jarrett und Joni Mitchell. Verwendet nach Absprache mit ECM Records. 5.und 7. August 2022, Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.
Performance: Titilayo Adebayo, Maria Ferreira Silva, Trajal Harrell, Nojan Bodas Mair, Thibault Lac, Songhay Toldon, Ondrej Vidlar.Trajal Harrell, Dancer of the Year. Foto: Marc Domage Regie, Choreografie, Set, Soundtrack & Kostüme: Trajal Harrell.
Verwendete Musik: Joni Mitchell – „My Old Man“, „The Last Time / Saw Richard“, „River“, „Both Sides“.
Keith Jarrett: „The Köln Concert Part I“.
Fotos:  © Reto Schmid