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Chris Haring / Liquid Loft: „cole mine birds“

Als Postskriptum zum vergangenen ImPulsTanzFestival zeigt Chris Haring / Liquid Loft in Kollaboration mit dem Ensemble für neue Musik, PHACE, eine installative Performance. Diesmal tragen die Spiegel und Paneele, die Livecams und Körperbilder den Titel cole mine birds. Das Besondere des Abends bringen die Musikerinnen von PHACE auf die Bühne. Im prall gefüllten Odeon war am 16.10. Premiere.
Zehn Paneele stehen über die gesamte Breite des Odeon verteilt umher, davor starr wie Schaufensterpuppen die Tänzerinnen. Sieht aus wie in einem verlassenen Fotostudio. Je nachdem, wo man Platz gefunden hat, ist die Perspektive eine andere. Die massiven tragenden Säulen im ehemaligen großen Börsensaal spielen mit, in dem sie die TänzerInnen und Musikerinnen, das komplette Geschehen auf der erweiterten Bühne freigeben oder verdecken. Das Publikum ist beteiligt, es muss sich damit abfinden, nur einen Ausschnitt des Ganzen zu sehen.
Chris Haring spielt also mit den bekannten choreografischen Elementen – Live Kamera, Lampen, Mikrofone, Projektionsflächen, Spiegel, Objekte (Licht Design, Szenografie von Thomas Jelinek) – den „Kanarienvogel in der Kohlenmine“. Was der Untertags zu suchen hat, weiß man aus dem Schulunterricht: Die kleinen Piepser reagieren übersensibel auf giftige Gase wie Kohlenmonoxid. Lange bevor die Arbeiter die Gase spüren, wird der Vogel unruhig oder stirbt. Ein Opfer, damit die Menschen die Mine verlassen und überleben. Die Metapher vom Kanarienvogel in der Kohlenmine beschreibt ein Frühwarnsystem. Aktuell geht es jenen, die sich dazu berufen fühlen, darum, die Aufgabe des metaphorischen Vogels zu übernehmen, geht es heute allerdings wie einst der vergeblich rufenden Cassandra. Niemand hört, niemand reagiert.
Den Tänzerinnen von Liquid Loft gebühren ebenso dichte Lorbeeren wie den Musikerinnen von PHACE. Zehn Performerinnen agieren auf zwischen live Kamera und Projektionsfläche, verschieben die Hüften, recken und strecken sich, plappern und senden mit weit geöffnetem Mund stumme Schreie es. Von den Performerinnen / Tänzerinnen sind nur drei aus dem Stammteam von Liquid Loft: Dante Murillo, Katharina Meves und Hannah Timbrell; Verena Herterich gehört seit dem Frühjahr als Mitwirkende in der Produktion Seid umschlungen Millionen ( Liquid Loft und PHACE) zum Team.) Coralie Bénard, Christin Commits, Livia Khazanehdari, Ida Osten und die beiden ehemaligen Tänzer im Wiener Staatsballett Jackson Carroll und François-Eloi Lavignac arbeiten zum ersten Mal in einer Choreografie von Chris Haring / Liqiid Loft. Wie nahtlos sie sich einfügen, ist bemerkenswert.
Den beiden Ballerinos schenkt Haring ein Solo, um ihre besonderen am klassischen Ballett erworbenen Fähigkeiten einzusetzen. Ein Lichtblick, denn das Zusammenwirken im schaurig grünen und blauen Licht von Tanzkörpern und der von den PHACE-Künstlerinnen teils live gespielten, teils im aufgezeichneten Musik, wirkt ziemlich düster. Den elektronischen Grundton zu den Werken von fünf Komponistinnen hat Andreas Berger, Liquid-Loft-Hauskomponist und Klangvirtuose, beigesteuert.
Die Performerinnen / Tänzerinnen sind nur noch Schatten, bewegen sich geisterhaft durch den erdrückenden Raum, erinnern mit Federboa und Schmuckstücken an gute alte Zeiten. Close-up: Die Körper zerfallen, riesige Münder, geknickte Arme, fleckige Haut, schwarze Nasenlöcher. Ich schließe die Augen vor dieser unappetitlichen Spielerei mit der Kamera. Der Schattentanz geht zu Ende, die Geister sind müde, stehen wieder vor ihren Paneelen, die zu Grabsteinen werden und zu Tragbahren umgelegt werden. Aus dem PHACE-Quintett löst sich ein Sänger, tiriliert als Techno-Queen of the Night ihre Rachearie. Die Arie stammt aus der Komposition Inszenierte Nacht des dänischen Komponisten Simon Stehen-Andersen. Musik lässt niemals kalt.
Danach schleppt sich der Kohlenminenvogel dem Ende entgegen, Mathilde Hoursiangou intoniert die Klage der Dito aus Henry Purcells Oper Dido und Aeneas auf dem Piano. Die holde Kunst, die tröstet und in eine „bessre Welt“ entführt. Textdichter Franz von Schober war ein Romantiker und Tondichter Franz Schubert ein Oberromantiker, Tanzdichter Chris Haring ist keiner. Er sagt uns auf der Bühne, was J. N. Nestroy bereits vor nahezu 200 Jahren gesungen hat: Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang. Noch wird getanzt, gesungen und Musik gemacht, auch wenn der Kanari tot im Käfig liegt.
Der Applaus am Ende der Vorstellung war kräftig und höchst lebendig. Liquid Loft und PHACE sind es ebenfalls.
Chris Haring / Liquid Loft in Kollaboration mit PHACE: coal mine birds
Künstlerische Leitung / Choreografie: Chris Hariing
Kompositionen von: Simon Steen Andersen, Alessandro Baticci, Jerome Combier, François Sarhan, Agata Zubel; Soundkonzept, Komposition: Andreas Berger
Musikerinnen: Clemente Manuel Alcaraz, Schlagwerk; Alexandra Dienz, Kontrabass; Mathilde Hoursiangou, Klavier, Roland Schueler, Cello; Walter Seebacher, Klarinette(n); Reinhard Fuchs, künstlerischer Leiter.
Tanz /Choreografie: Coralie Bénard, Jackson Carroll, Christin Commisso, Verena Herterich, Livia Khazanehdari, François-Eloi Lavignac, Katharina Meves, Dante Murillo, Ida Osten, Hannah Timbrell
Kostüme. Stefan Röhrl; Licht Design / Szenografie: Thomas Jelinek; Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Company Management: Cornelia Lehner.
Fotos: © Michael Loizenbauer, Chris Haring