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Aus der Vergangenheit in die Gegenwart getanzt

Lea Karnutsch in Walzerseligkeit

Glückseligkeit. War gestern, oder?“, eine Auseinandersetzung mit Grete Wiesenthal in Choreografie und Tanz unter der künstlerischen Leitung der Tanzhistorikerin Andrea Amort, hat in drei Vorstellungen im brut nordwest das Publikum begeistert. Vier Tänzerinnen – Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller, Katharina Senk ­– eignen sich die Tanzsprache Wiesenthals an und holen sie in eigenen Choreografien ins Heute.

 Drehen, drehen, drehen, bis der Schwindel selig macht: Katharina Senk in ihrer Coreografie .„Fever“..Zuerst der Walzer: Drehen, drehen, drehen bis zum Abheben im schwingenden Rock, in die Schräglage kippen, fast waagrecht ist die Tänzerin, aber der Mitte, die Arme zum Himmel gestreckt, das Gesicht zur Sonne. Lea Karnutsch kann das in der Premiere und Eva-Maria Schaller in der zweiten Vorstellung auch. Es braucht kein Sektglas in der Hand, um den Rausch zu ahnen, die Glückseligkeit zu spüren. Der Titel der Produktion des Vereins Lebendiges Tanzarchiv Wien unter der Leitung von Andrea Amort, „Glückselig. War gestern, oder?“, wird lebendig und klar. Die Antwort auf die Frage ist „Ja“. Ja, man kann sich ich auch heute noch in die Glückseligkeit wirbeln, man darf sich auch heute noch, Dionysos gleich, am Tanz berauschen. Sogar als Zuschauerin. Lea Karnutsch in ihrer Choreografie: „process of a braced wound healing“. Grete Wiesenthal (1885–1970) kündigte 1907 ihre Stellung als Solotänzerin an der Wiener Hofoper, um ihre eigene Tanzsprache, frei von den strengen Regeln des Spitzentanzes, zu finden. Amort macht den Beginn der europäischen Moderne im künstlerischen Tanz an Grete Wiesenthals Karriere als freie Tänzerin und Choreografin fest.
Die vier jungen Tänzerinnen haben Wiesenthals spezielle Tanzsprache mit den weit schwingenden Bewegungen, dem nach hinten gekippten Rückgrat und den gegen den Himmel gereckten Armen studiert, sich, wie sie sagen, „zu eigen gemacht, um uns dann in ihr auszulassen und ins Jetzt zu fallen.“ Lea Karnutsch expressiv in „process of a braced wound healing“.
Vergessen war Wiesenthal niemals, auch die Wiener Staatsoper hat im Lauf der Jahre immer wieder ihr Interesse an der Tänzerin Grete Wiesenthal bekundet. Schon kurz nach Wiesenthals Tod, begannen Vilma Kostka-Langer und Erika Kniza-Tron, ehemalige Tänzerinnen der Wiesenthal-Tanzgruppe, 1977 mit der Einstudierung von „originalen“ Tänzen. Auch der im aktuellen Programm gezeigte Walzer, „Wein, Weib und Gesang“ von Johann Strauß (Sohn) war dabei. Die Erste Solotänzerin im Staatsballett Susanne Kirnbauer hat ihn getanzt. Sie war auch bereit, ihr Können weiterzugeben und hat das Erlebnis eines Mädchens auf dem ersten Ball mit den Glückseligkeits-Tänzerinnen einstudiert. Eva-Maria Schaller in "Wind" nach Grete Wiesenthal zur Musik von Franz Schreker.
Die jüngste im Quartett, Rebecca Pichler, hat 2022 ihr Studium der zeitgenössischen Tanzpädagogik an der MuK in Wien abgeschlossen. Ihre ersten Begegnungen mit Tanz sind stark von Ottilie Mitterhuber, einer Schülerin von Grete Wiesenthal und Hanna Berger an der Akademie für Musik und darstellende Kunst, geprägt. „Die leichte Schwierigkeit“ nennt sie ihre Darbietung, in der sie zu Walzern von Franz Schubert und dem Andante con moto aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 tanzt. Grete Wiesenthal, hat Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 für einen ihrer frühen Tänze verwendet. Davon existiert ein Foto, das sie in einer Pose abbildet, die Pichler in ihrer Choreografie zitiert. (Informationen aus dem ausgezeichnet gestalteten bebilderten Programmheft) Wie das Schwere leicht wird, zeigt die Tänzerin im Walzertakt. Die vier Tänzerinnen: Eva-Maria Schaller, Lea Karnutsch, Katharina Senk und Rebecca Pichler. Das Schwere ist vor allem, in der von Wiesenthal geliebten Schräglage die Balance zu halten. „Ewig kann diese Bewegung nicht sein“, sagt die Tänzerin: „Es ist ein kurzes Ausloten der Grenzen, ein Augenblick des Vakuums.“ Dazu passt auch Nikolaus Adlers Bemerkung im Programmheft: „Glückseligkeit ist die erfahrbare Utopie, die das Glück dem Drama der Zeit entzieht und die Schranken der Zeit, in der Zeit aufzuheben, in der Lage ist – auf Zeit.“ Den Wiener Walzer hören, dessen Spezialität es ist, zwischen der Drei und der Vier des Dreivierteltaktes eine spürbare Verzögerung einzubauen, die im üblichen Walzertakt nicht vorhanden ist. Für Rebekka Pichler „kann dieser ‘Wiener Nachschlag’ das Gefühl erzeugen, den Bruchteil einer Sekunde lang in Schwebe gehalten zu werden.“ Vier Tänzerinnen haben dieses Gefühl erlebt und dem Publikum vermittelt. Katharina Senk im fliegenden Rock, entworfen von  awareness &consciousnes.
Lea Karnutsch und Eva-Maria Schaller zeigen eindrucksvoll und in bester Laune die wesentlichen Elemente von Wiesenthals Walzerinterpretation, wofür sie spezielle, weiche Schuhe mit einem kleinen Absatz verwendet haben. Natürlichkeit, Spontanität und die komplexen Dreh- und Schwungmotive in Schräglage sind beiden Tänzerinnen perfekt gelungen. Die Kostüme verstärken die Wirkung dieses berauschenden Tanzens. Die kreisrund geschnittenen plissierten Röcke aus weich fließendem Material bauschen sich ballonartig auf, scheinen den Tänzerinnen zusätzlichen Schwung zu geben. Dafür verantwortlich ist die Designerin Christiane Gruber, die unter dem Label awarness & consciousness arbeitet. 
Andrea Amort hat eine feine Dramaturgie geschaffen. Die einzelnen Choreografien der Tänzerinnen, die manchmal Wiesenthals Tanz-Vokabular sichtbar einbeziehen oder auch Wiesenthals Technik weiterentwickeln, sodass die Patenschaft nur noch erahnt werden kann, sind durch Zwischenstücke, sogenannte Drehmomente mit den Tänzerinnen, die oft aus dem Dunkel kommen und im Dunkel wieder verschwinden, und Videos, die ganz andere Drehmomente zeigen, verbunden. Da war es bei der Premiere sehr angenehm, dass zwar der Eingangswalzer beklatscht worden ist, dann aber gespannte Stille herrschte, bis die Vorführung ihrem Ende entgegen getaumelt ist. Eva-Maria Schaller eignet sich Wiesenthals Bewegungsvokabular an und kreiert daraus eigene Choreografien. Die vier Tänzerinnen haben sich auch die Musikstücke selbst ausgewählt. Karnutsch, die unter dem Titel „process of a braced wound healing“ eine ganze Geschichte erzählt – schmerzhaft und eindrucksvoll –, wählte „Refugium“ und „Circumnavigation“ von Ferdinand Doblhammer (Moosiqunt). Der Prozess der Heilung dieser aufgerissenen Wunde, die schon verheilt war, ist radikal und sowohl in der Musik wie im expressionistischen Tanz körpernah spürbar. Auch Katharina Senk hat eine zeitgenössische Komposition gewählt, um deutlich zu machen, dass Grete Wiesenthal zwar das Ausgangsmaterial liefert, doch sie, wie ihre Kolleginnen, daraus ihre eigene Tanzsprache generiert. „Fever“ wird von „Magic Wall“ von Verena Zeiner und Wolfgang Schlögl begleitet. Senk legt auch, inspiriert von Wiesenthal, auf die Mimik wert und verwendet den Rock, der anfangs wie ein Poncho auf ihren Schultern liegt, als Partner für einen Pas de deux. Sie nutzt das Drehen, bis ich als Zuschauerin fürchten muss, dass sie gleich in die Kulissen gewirbelt oder zu Boden geschleudert wird. Doch der Abgang ist ruhig, geradezu gemessen, es hat sich ausgekreiselt. Aufgerisse Wunden wieder heilen: Lea Karnutsch beeindruckt mit Ausdruckskraft. Eva-Maria Schaller, die sich schon mit viel weiter zurückliegenden tänzerischen Erbstücken befasst hat – ich erinnere mich an ihr einprägsames „Solo „Vestris 0.4“ von 2018, in dem sie sich auf den Tanzstar, gepriesen als „Gott des Tanzes“, Auguste Vestris (1760–1842) bezieht – hat sich Grete Wiesenthal tatsächlich einverleibt. Ihre beiden Solos beziehen sich auf bekannte Choreografien Wiesenthals. „Allegretto“, aus der Sonata in F-Dur von Ludwig van Beethoven, hat Wiesenthal erstmals 1906 im privaten Kreis getanzt, und auch 1908 bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten im Theater und Kabarett Fledermaus. Schallers zweites Solo ist überaus plastisch. Grete Wiesental hat das Szenario „Wind“ geschrieben, Franz Schreker komponierte die Musik dazu. „Der Wind“ (1908 / 09) war eine von sechs Arbeiten, die Schreker für die Wiesenthal Schwestern komponiert hat. 1909 ist „Der Wind“ im Raimundtheater aufgeführt worden. „Der Dialog zwischen mir und der Musik, meiner Bewegung wird zu einem Versteckspiel mit erkennbarer Form und deren Auflösung, ein Spiel mit dem größtmöglichen Ausmaß an Spontaneität.“ (Eva-Maria Schaller) Wenn Schaller tanzt, ist der Wind, anders als in der Natur, zu sehen. Rebecca Pichler fast in Schräglage. Ihre Choreografie nennt sie: „Die leichte Schwierigkeit“.
Noch einmal ein Drehmoment, die Welt dreht sich auf dem Video, die Tänzerinnen mit den Sektgläsern in der Hand drehen sich auf der Bühne. Stopp! Bitte noch nicht applaudieren, die Performance drückt zum Abschluss auf die Tränendrüsen.
Überwältigend! Wundervoll! Soap&Skin!
Wir hören die Coverversion des Songs „What a wonderful world“. Louis Armstrong hat den Hit 1967 aufgenommenen, mitten im Vietnamkrieg. Alles Stachlige, Schmerzhafte und Gemeine, der ganze Dreck, der die Welt bedeckt, fällt ab. Bob Thiele (= George Douglas) und George David Weiss haben den Evergreen geschaffen. Ohne Ironie, doch eine Utopie. Eine Utopie, aber auch ein Hauch von Glückseligkeit.

Lebendiges Tanzarchiv Wien (Andrea Amort): „Glückselig, War gestern, oder?“ Eine Aneignung.
Konzept, Choreografie und Tanz : Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller, Katharina Senk
Konzept und Dramaturgie: Andrea Amort und Inge Gappmaier
Einstudierung des originalen Solos von Grete Wiesenthals „Wein, Weib und Gesang“: Susanne Kirnbauer  Leo Rauth: Grete Wiesenthal tanzt den „Frühlingstimmenwalzer“, Graphik, 1910. © gemeinfrei Elemente aus überliefertem Tanz-Repertoire von Grete Wiesenthal: Jolantha Seyfried
Unterricht in der Tanzweise von Grete Wiesenthal: Anita Kiselka-Kidritsch
Musik: Johann Strauß (Sohn), Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Franz Schreker sowie Verena Zeiner und Wolfgang Schlögl, Ferdinand Doblhammer, Soap]Skin (aus dem Album „From Gas to Solid / You are My Friend“); Musikalische Einrichtung: Marlene Lacherstorfer
Video: Johannes Gierlinger und Mira Klug . Lichtdesign: Jan Wagner
Kostüme awareness &consciousness
Fotografie: Natali Glišić