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Tanz für zu Hause in Zeiten geschlossener Bühnen

John Neumeier: Matthäus-Passion". © Kiran West

Was tun an diesem traurigen Ende einer erfolgreich begonnenen Tanzsaison? Ein Liveerlebnis ist nicht möglich, sämtliche Bühnen, kleine wie große, sind geschlossen, Festivals abgesagt, die tanzlose Zeit muss aus den Archiven gefüllt werden. Vorbildlich hilft das Hamburg Ballett mit Ballettaufzeichnungen in der Osterzeit und danach. Zur Vertiefung des Wissens und Genießens von Tanzaufführungen dienen Bücher, und wer nicht an virtuelle Öffnungszeiten gebunden sein will, stöbert in den DVD-Archiven.

Die oft nicht zu Unrecht geschmähte vernetzte Welt hat auch ihre guten Seiten. Das haben auch Tanzspezialist*innen und Choreograf*nnen samt den Ausführenden erkannt. Dagmar Ellen Fischer: "Eine kurze Geschichte des Tanzes". © Henschel VerlagEtwa Dagmar Ellen Fischer, die ihr Sachbuch „Eine kurze Geschichte des Tanzes“, die so kurz gar nicht ist, reicht sie doch von den frühen Hochkulturen bis ins 21. Jahrhundert, mit dem Blick auf die globalisierten Dörfer endet und dafür die deutsche Kunsthistorikerin Söke Dinkla zitiert: „Daher besteht die aktuelle Herausforderung darin, die digitalen Medien als Kulturtechnik zu begreifen, die unser Bild der Welt und unser Verständnis des eigenen Körpers bereits verändert hat.“
Zurzeit, da das Virus SARS Cov-2 weltweit sein Unwesen treibt, spüren nicht nur Tänzer*innen die Folgen der vernetzten Welt am eigenen Leib. Die, die uns auf der Bühne, wo immer diese imaginären Bretter aufgeschlagen werden, Freude bereiten, uns zu Tränen rühren, zum Nachdenken animieren oder zum Lachen reizen, dürfen gerade nicht und wir, das Publikum, vermissen schmerzhaft das lebendige Erlebnis, die Atmosphäre eines gefüllten Auditoriums, in dem sich der Atem der bewegten Körper mit dem der stillsitzenden mischt. Doch einen Teil des Glücks im Tanz – John Neumeier: "Illusionen _ wie Schwanensee", @ Kiran Westauch das bewegungslose Genießen einer Tanzperformance kann glücklich machen – können wir im weltweiten Netz finden und in die heimische Isolation holen. John Neumeier weiß das längst, hat viele seine Ballette in die Konserve verpackt und auf DVD festgehalten und macht den Liebhaber*innen von Tanz und Performance eine echte Osterfreude. Beginnend mit der Aufzeichnung seiner Choreografie zu Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ vom April 2005 aus dem Festspielhaus Baden-Baden. Das Besondere an dieser Aufführung ist die Mitwirkung des Choreografen, der auch das Bühnenbild gestaltet hat, zum letzten Mal als Tänzer in der Rolle des Jesus. Zu sehen ist das mehrstündige Ereignis am Donnerstag, 9. April 2020 und am Samstag, 18. April, jeweils um 16.30 Uhr.
Als Video on Demand werden überdies folgende Neumeier-Choreografien jeweils um 16.30 Uhr auf der Site des Hamburg Balletts abrufbar sein und 48 Stunden zur Verfügung stehen:
„Die Kameliendame“, 16. und 25. April 2020.
„Tod in Venedig“, 23. April und 2. Mai 2020.
„Beethoven-Projekt“, 30. April und 9. Mai 2020.
Illusionen – wie Schwanensee“, 7. und 16. Mai 2020. Dieses, 1976 uraufgeführte und von Neumeier überarbeitete wunderbare Ballett https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck_repertoire.php?SNr=376 lege ich nicht nur Neumeier-Fans besonders ans Herz.
Die Videos stehen jeweils für 48 Stunden als kostenloses Video-on-Demand auf der Homepage des Hamburg Balletts bereit. Neun Tage später wird die jeweilige Produktion ein zweites Mal verfügbar gemacht."Sylvia", Ballett in der Choreografie von Manuel Legris.  © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Aus der Wiener Staatsoper wird zwar täglich (außer am Karfreitag) gestreamt, doch sind nur wenige Ballettaufzeichnungen vorhanden, und die werden, wie so oft auch die Compagnie, schmählichst behandelt. Erst am 17. Mai ist wieder eine Ballettaufführung auf staatsoperlive.com zu sehen. Einstweilen steht das Ballett „Sylvia“ (Choreografie Manuel Legris) auf dem virtuellen Spielplan. Doch „Programmänderungen sind nicht auszuschließen.“

Zeitunabhängig kann man sich die in Wien aufgeführten Nurejew-Ballette auf DVD gönnen: „Don Quixote“, „Der Nussknacker“ und „Schwanensee“ sind in der Nurejev-Box vereint; „Le Corsaire“ in der Choreografie von Manuel Legris gibt es einzeln bei jpc. https://www.jpc.de/s/wiener+staatsballett

Wer Ballett nicht nur als stumme Konsumentin eines Films an sich vorbeirollen lassen möchte, sondern mehr wissen will, um besser zu verstehen, beschäftigt sich lesend mit Terpsichore und ihrer unsterblichen Kunst.

Neben dem reich bebilderten Band „Eine kurze Geschichte des Tanzes“ der Tanzkritikerin und Jurorin Dagmar Ellen Fischer, gefällt mir besonders gut das Lesebuch „Das Jahrhundert des Tanzes“, herausgegeben im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin im Alexander Verlag von Johannes Odenthal, dem Gründer der Zeitschrift „tanz aktuell“. Beide eignen sich auch hervorragend als Nachschlagewerke.Illustration in "Eine kurze Geschichte des Tanzes": Figuren aus dem "Ballet Royal de la Nuit", uraufgeführt 1653 mit dem jungen Louis XIV als aufgehende Sonne, die den Spuk der Nacht beendet. © Archiv der Autorin „Eine kurze Geschichte des Tanzes“ hat einen ausführlichen Anhang mit Namen und Stichwörtern; „Das Jahrhundert des Tanzes“ (gemeint ist das 20.) wird durch Porträts und Biografien dargestellt, die sind nicht chronologisch geordnet, sondern alphabetisch, beginnend mit Germaine Acogny, der „Mutter des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes“, die dieses Jahr ihren 76. Geburtstag feiert und immer noch aktiv ist, und weil es das ABC so vorschreibt, auch mit der afrikanischen Choreografin und Performerin Elsa Wolliaston, die zwar in Jamaika geboren ist, doch von ihrer afrikansichen Großmutter väterlicherseits in Kenya erzogen worden ist. Dazwischen tummeln sich Oskar Schlemmer, Rosalia Chladek und Grete Wiesenthal neben Ismael Ivo, "Das Jahrhundert des Tanzes", ein Lesebuch. © Moritz Hase, UmschlagfotografieYvonne Rainer oder Jiři Kylián, also sämtliche Choreograf*innen und Performer*innen, die Odenthal und die mitarbeitenden Autor*innen für bedeutsam gefunden haben. Entstanden ist dieser Band 2019 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Programmschwerpunkt „Was der Körper erinnert. Zur Aktualität des Tanzerbes an der Akademie der Künste in Berlin. Und weil wir schon bei Zusammenfassen und Zurückschauen sind, empfehle ich noch einmal das ausgezeichnete Katalogbuch zur Ausstellung im Wiener Theatermuseum: Katalogbuch "Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne" herausgegeben von Andrea Amort. © Theatermuseum /Hatje Cantz „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, herausgegeben von Andrea Amort. Amort hat auch die informative Ausstellung, quasi ein Pendant zur etwas umfassenderen Ausstellung in Berlin, initiiert und kuratiert. Am 10. Februar 2020 wurden nach einem Jahr die Pforten geschlossen, was immer sich jetzt dahinter verbirgt, sie bleiben auch bis auf weiteres fest geschlossen. Mit den leicht lesbaren Beiträgen im reichlich illustrierten Band „Alles tanzt“ lässt sich die Ausstellung im home-museum privat und subjektiv nachgestalten.

Das Hamburg Ballett zeigt Choreografien von John Neumeier als gratis Video-on-demand.
Das Wiener Staatsballett online: „Sylvia“, 17. Mai 2020, Premierenbesetzung.
Das Wiener Staatsballett auf DVD / Blueray bei jpc.
Dagmar Ellen Fischer: „Eine kurze Geschichte des Tanzes“, Henschel 2019, 336 S., 336 farbige oder s/w Abbildungen. € 33,00.
„Das Jahrhundert des Tanzes“, ein Reader, herausgegeben von Johannes Odenthal im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin und DIEHL + RITTER. Alexander Verlag, 2019. Deutsch / Englisch, 320 S., 150 Abb. € 20,60.
„Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, herausgegeben von Andrea Amort. Hatje Cantz, 2019. 384 S. ca. 300 Abb. € 43,20.